Verrückte Heiterkeit

 

"Wenn alle verrückt werden, dann ist es das Vernünftigste, auch verrückt zu werden". Ein grauenhaft kluger Satz. Von bestechender, ja geradezu messerscharfer Logik. Blut sieht man keines, aber vielleicht das Narrenschiff, auf dem wir uns befinden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, lese ich beim französischen Historiker Michel Clévenot, sei das Todesthema durch das des Wahnsinns ersetzt worden, und in seinem Text zum "Narrenschiff" von Hieronymus Bosch zitiert er folgenden, durchaus vertrauten Satz: "Wir sind feige, schwach, alt, weich, lüstern und Verleumder zugleich. Ueberall seh ich nur Narren. Das Ende lässt nicht auf sich harren. Es sieht übel aus."(Michel Clévenot, Ein Jahrhundert voll Glaubenswille. Geschichte des Christentums im XVI.Jahrhundert, Luzern 1994)

 

Es sieht übel aus. Die Zukunft rollt auf uns zu, wie "ein Zweitonner auf der falschen Spur". Sie mögen diese Zukunft nicht?  "Schalten Sie sie ab. Bestellen Sie sich eine andere. Schicken Sie sie zurück. Zurück an Absender"(Margaret Atwood) Schon wieder ein Schlag mitten ins Gesicht.

 

Es sieht übel aus. Da hilft nur eines: Heiterkeit.  Auf unserem Narrenschiff, da herrscht nicht bloss Verzweiflung und Wahn, da wird gelacht, da wird das Leben genossen: Lauthals, unkontrolliert, schrill und weltvergessen, da wachsen den Narren kleine Stummelflügel zum Flattern, für einen kurzen Hopser ins Paradies, hinauf und wieder herunter ... und sie beginnen zu philosophieren und zu fabulieren, es ist eine Freude, keine wahre, aber eine Freude.

 

Was uns wahrhaft auf dem Herzen liegt ...

 

Nein, nein, es geht nicht bloss um Spass. Es wird tatsächlich ernsthaft nachgedacht und nach klugen Sätzen gedürstet. Die Narren haben nicht nur das Vergnügen im Kopf und anderswo, sondern es ist ihnen ein Bedürfnis, ihre Erfahrungen, ihre Wünsche und Visionen, ihr ernsthaftes und manchmal lustvolles Hoffen und Sehnen in präzise Worte und Bilder zu fassen. Sie kleben sie auf jede freie Fläche, zwischen jedes Papier, ja manchmal werfen sie sie gar als Fliegerchen gefaltet in die Himmel hinauf, ihre wahren Sätze über das Glück, über den Traum, über Solidarität und Bewegung und Lust und Freiheit und Selbstwerdung. Aber das Schöne daran, – das Neue ist, dass diese Narren – wir (seien wir nur ja nicht so überheblich) – keine teuren Bücher aus irgendwelchen wissenschaftlichen Verlagen mit unverständlichen Titeln und Tausenden von Anmerkungen zu lesen brauchen, auch keine komplizierten Zeitungsartikel, es wird uns die Gelegenheit geboten, uns täglich in meditativ-betrachtender Weise in unser tiefstes, heimliches Ich zu versenken und all das zutage zu fördern, was uns wahrhaft auf dem Herzen liegt und in der Seele brennt. Es ist ganz einfach. Die Philosophie, die uns das ermöglicht, ist knapp, klar, prägnant. Kommt schnell zur Sache, bringt es voll auf den Punkt und ist enorm anwenderInnenfreundlich. Aber lesen sie selbst.

 

... und unsere Träume Wirklichkeit werden lässt

 

"Es hat viel mit Verstand zu tun, wenn Träume Wirklichkeit werden. Denn ein Traum ist wie eine Vision. Um sie wahr werden zu lassen, muss der Verstand solange daran arbeiten, bis sie in der realen Welt bestehen kann. Die neue XJ Serie macht diesen Traum wahr. Denn wir haben die klassischen Werte mit technischen Innovationen verbunden. So können sich Gefühl und Verstand einig sein."(Jaguar, Daimler)

 

Wie schön gesagt! Es geht aber auch mit weniger Anstrengung:

 

"17 Jahre: Der erste Kuss. 19 Jahre: Das erste Auto. 26 Jahre: Der erste Job. 42 Jahre: Der erste Porsche. Ist es nicht schön, dass das Leben nach oben offen ist?"(Porsche)

 

Wer wollte da nicht endlich 42 sein. Aber das ist noch lange nicht alles:

 

"Erfolg ist mehr als Karriere, Geld und Sex. Für die wenigen, die mehr verlangen, gibt es Besseres als Sex: Eleganz. Und etwas Besseres als Karriere: einen günstigen Preis."(Fiat Panda)

 

Aber ohne Geld kein Preis:

 

"Ihr Geld hat auch keinen 8-Stunden-Tag. Gutes Geld zu verdienen entschädigt für manches. Und beruhigend ist es auch – bis sich die Frage stellt: Wie lasse ich mein Geld am besten für mich arbeiten?"(Deutsche Sparkasse)

 

Indem man es in die richtigen Hände legt:

 

Jetzt stellen sie sich einen schönen Mann vor, mit nacktem Oberkörper, ein Jackett darüber, indianische Gesichtszüge. Und jetzt stellen sie sich vor, es steht darunter: "Das typisch Schweizerische an diesem Jackett ist unsere verdammte Hochachtung vor Geld. Legen sie ihr Geld in der Schweiz an."(Strellson of Switzerland) Und jetzt stellen sie sich vor, es ist denen verdammt nochmal ernst damit.

 

Aber es gibt ja neben all dem noch eine Persönlichkeitsentfaltung:

 

"Was tun? Töpferkurs in der Toskana? Schnupperkurs im Self-Management? Esoterikkurs 'Auf dem Weg zum Ich'? Wir haben da einen eher technischen Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsentfaltung. Der neue 911 Turbo"(Porsche).

 

Vielleicht helfen auch Unterhosen, jedenfalls dem Mann:

 

"Sie hat drei schwarze Katzen, einen blauen Jaguar und mich. Sie wird gleich kommen und mit ihren Krallen spielen. Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen und darüber Moonday tragen". Ja, ja, diese Unterhosen, zum Glück gibt's für "Aufgabler, junges Gemüse und scharfe Typen den Dip von Maggi" und eine "Generation, die PS nicht mit Potenz verwechselt (Citroën), denn auch "Füsse haben Gefühle"(Sioux) und auf "Zypern begegnen sie einem neuen Menschen: Sich selbst". Klar: "Unsere Antwort auf die Ellbogengesellschaft" (Air France) Denn, sehen Sie: "Freiheit braucht Raum. Ein neues Denken für eine neue Zeit."(Opel) und "wenn schon Stau – dann wenigstens First class (Rover). "Wers dir heute kann besorgen, den verschiebe nie auf morgen" (petra), weil es ist ja so: "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Reifen." Nichtsdestotrotz muss es "doch eine Möglichkeit geben, ein gemeinsames Ziel individuell zu erreichen."(Microsoft) Aber "ohne sie wäre er nicht vollkommen. Gemeinsam ist man stärker. Und zusammen erreicht man mehr. Eine Erkenntnis, die sich in ihrer faszinierenden Auswirkung auch in der Technologie wiederfindet – wie beim 2-Klingen-System von Philishave. Zwei Klingen, die einander genial ergänzen ..." Jedoch: "Suchen sie keinen Sinn, sondern Geschmack (Benson&Hedges), denn "Persönlichkeit kann man nicht kaufen. Nur betonen.(Toni Gard, Men) Aber "wozu laufen lernen, wenn fliegen so schön ist? (Condor)" Aber bitte in der ersten Reihe: "Wer in der ersten Reihe sitzt, lässt alle andern hinter sich. Wer heute einen Blick auf die Medienlandschaft wirft, bekommt oft nur flaches Land zu Gesicht. Verkaufbar ist, was an der Oberfläche bleibt. Ein solches Niveau lässt aber keine neuen Perspektiven zu. Oeffentlich-rechtlich sehen heisst anders sehen. Horizonte erweitern und den Blick auf Neues freigeben."(ARD-ZDF)

 

Aber heiter, immer weiter ...

 

Ist das nicht schön? Dieses "Horizonte erweitern", diesen Blick auf Neues und alles individuell und genial ergänzt und erst noch mit entfalteter Persönlichkeit? Faszinierend. Wieso sind wir nie so wahnsinnig originell, so denkerisch zugespitzt? Natürlich gibt es solche und solche und auch nicht jedermanns Fleisch rückt Moonday ins rechte Licht.

 

Wahrscheinlich liegt's halt daran, dass wir die falschen Dinge verkaufen. Wie soll denn auch Solidarität mit gutgeschnittenen Unterhosen konkurrieren können? Oder Gerechtigkeit mit einem handlichen 2-Klingen-System?

 

Wir möchten etwas sagen zum wachsenden Sozialdumping, zu den Zockern an den internationalen Börsen, zur Verschiebung des politischen Koordinatensystems nach rechts, zu gesteigerter Destruktivität, zu Gentechnologie, Organhandel, AHV-Revision und Antifeminismuskampagnen ...? Sparen wir uns doch die differenzierten Analysen und fragen lieber Benetton, sein Photograph wird's schon richten, auch die MacherInnen der Anti-Aids-Kampagne könnten uns von Nutzen sein. Ich beneide diese Leute, ich gebe es gerne zu. Analyse-Botschaft-Erlösung in ein zwei knappen Sätzen und bestechenden Bildern. Wenn das nicht gutgeht. Unsereins kann da nicht mithalten. Vielleicht sollte ich mich verabschieden von meinem antiquiierten Ich und bald einmal nach Zypern reisen, um dort endlich mein Selbst zu treffen, meine Träume in eleganter Weise wahrzumachen, indem ich fliege anstatt laufe und in verdammter Hochachtung vor unserem Schweizer Franken ein Mars kaufe, weil man mit Mars "ans Ziel kommt und noch ein Stück weiter" und dann vielleicht noch ein Stück weiter und ich mache mir eine schöne Zeit und fahren heiter immer weiter, holleriaheio ... und vielleicht, wer weiss, werde ich zur wahren Präzision begnadigt und reime fortan auf Kollaps Schnaps, auf Börsentrend Pepsodent, auf Genese Langnese und sehe endlich ein, dass das Vernünftige verrückt und das Verrückte vernünftig ist.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay