Überalterung

 

Unsere Gesellschaft ist überaltert. Der Planet überbevölkert, die Böden überdüngt, die Meere überfischt, die Börse überhitzt, die Ansprüche überzogen. Langsam bekommt man es über und sucht sich einen Unterschlupf. Aber den gibt es nicht. Wie es auch beispielsweise das Wort unterjungt nicht gibt, obwohl es durchaus Gesellschaften gibt, in denen die Mehrheit der Bevölkerung jung ist. Aber die sind weit weg. Und eben noch nicht so weit. Denn eigentlich war es einst ein Versprechen auf Glück, alt zu werden und nicht vor der Zeit zu sterben. Inzwischen gilt es nicht mehr als Privileg, sondern als Problem.

 

Eine überalterte Gesellschaft ist eine zu alte Gesellschaft, in der nicht das Alter das Problem ist, sondern die Kosten, die es verursacht. Im „überaltert“ steckt ein „zu teuer“ und ein „unproduktiv“, manchmal ein „unnütz“. Sagen sie ihrer alten Mutter: „Du bist unbezahlbar!“ Und sie wird nicht strahlen, sondern erbleichen.

 

So sind wir. Wir haben rechnen gelernt, obwohl die Pisa-Studie das inzwischen bezweifelt. Auch die Kinder kosten uns ja viel zu viel, nicht Nerven, aber Geld. Hört man uns reden, muss man annehmen, wir seien das zweitärmste Land der Welt. Mindestens.

 

Alle wollen wir alt werden, medizinisch gesehen scheuen wir bisher keine Kosten , aber niemand soll alt sein. Wo da die Logik ist? Ja, wo ist sie denn? Oder gibt es hier nicht nur eine, sondern deren zwei? Eine Glücksmaximierungslogik und eine Finanzierungslogik: alle wollen wir das Glück, aber doch nicht das Glück aller finanzieren.

 

Wer über hundert Jahre alt wird, kommt am Radio und in den Zeitungen, gerade so, als hätte sie oder er eine persönliche Bestleistung vollbracht. Wenn aber Hunderttausende alt und älter werden, verstopfen sie lediglich die Eisenbahnabteile und freien Geldflüsse. RentnerInnen rentieren eben nicht und zählen tut hier, was sich rechnet. In Wahrheit ist es nicht die „überalterte Gesellschaft“, die uns alt aussehen lässt, sondern unser Reden darüber.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay