Über den Rand

 

In der Welt wird viel und immer Neues erfunden. Das gefällt mir. Das ist wunderbar. Es ist ja gerade das Herausragende am Menschen, dass er Dinge erfindet. Dafür hat er den Kopf, den er hat. Um mit ihm alles, was ist, zu verändern, zu verbessern, umzukrempeln und neu einzurichten. Immer und immer wieder. Um Dinge zu erfinden, die es vorher nicht gab. Neue Apfelsorten und Kaffeefilter, Glühbirnen und Fernseher, Bücher und  Filme, allerlei Maschinen und Fahrzeuge, nicht zu vergessen Herzschrittmacher, Internet, Roboter und Handys. Die Liste ist unendlich lang und wird eifrig und voller Stolz weitergeführt. Nie zufrieden, arbeitet der Mensch inzwischen sogar an der Perfektionierung seiner selbst. Nicht nur durch regelmässige Selbstbefragung, Zen-Meditation, Gebet, allerlei therapeutische Massnahmen oder weiterbildende Kurse, nein, auch und gerade durch das Entschlüsseln und allenfalls Reparieren seiner DNA. Alle Mal besser, das Ausgangsmaterial in Ordnung zu bringen, anstatt hernach mühselig die Folgen von unerfreulichen Defekten aufzufangen.

 

Was bei aller Genialität nicht klar wird: Weshalb werkelt die eine Hand an der Vollendung des Menschen, während die andere nichts lieber täte, als ihn abzuschaffen?

 

Aber nein, erklärt man mir, nicht der Mensch arbeitet an der Überflüssigmachung des Menschen, sondern der Markt. Der will sich bekanntlich ausbreiten. Ungebremst und frei. Damit das funktioniert, braucht er Menschen. Irgendwer muss schliesslich die Dinge kaufen, die er produziert. Nun sind die Menschen dem Markt gleichzeitig auch unbequem. Die Kosten, die sie verursachen, sind enorm. Ersatz ist gefragt. In Form von Robotern und Maschinen. Landwirtschaft und Industrie machen es vor, der Dienstleistungssektor folgt ihnen auf dem Fuss. Neuestes Beispiel ist die Migros. Sie liebäugelt offensichtlich mit der Idee, die Kassiererinnen abzuschaffen. Eine ganz tolle Idee, nicht wahr?! Endlich keine Gespräche mehr an der Kasse, endlich wieder alles selber tun. Wir sind vielleicht noch nicht in allem die Schmiede unseres Glücks, aber immerhin Herrinnen und Herren unserer Salatköpfe, Bahnbillete und Bankkonten. Jede ihr eigenes Kompetenzzentrum – wenn das kein Fortschritt ist.

 

Der Haken ist bloss: wohin mit den Kassiererinnen? Mit dem ganzen Abbauprodukt Mensch?

 

Wegsparen ist das eine. Aber verschwindet er dadurch? Eben! Und wer zahlt dann eigentlich noch Steuern und AHV und kauft all das massenhaft produzierte Zeug? Auch an der Logik wird offensichtlich gespart.

 

Wäre die Erde keine Kugel, sondern eine Scheibe, das Problem liesse sich auf die bewährte Art lösen, denn es wäre ein Leichtes, die überflüssigen Menschen loszuwerden: man bräuchte sie bloss über den Rand zu schieben.

 

Genial einfach. Dass man das noch nicht erfunden hat?

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay