Schlüssel

 

Schlüssel braucht es, wenn es Türen gibt. Beginnen wir bei den Türen, denn mit Türen fängt es an. Wäre (uns) alles offen, wir bräuchten uns um Schlüssel nicht zu kümmern. Eines führt zum andern.

 

Türen – Bilder für Abgrenzbares, für das Eigene, für Intimität und fär das Geheimnis. Unzählige Geschichten gibt es, die wissen von der Macht verborgener Räume, zu denen die Schlüssel fehlen. Manchmal bezahlt man mit einem Finger, manchmal mit dem Leben, will man hinein. Märchen! Wie steht es mit uns?

 

Weltweit gesehen sind den Frauen nur wenige Türen aufgegangen; für manche einen Spalt breit, zum Hineinschauen, für einige geöffnet, um hineinzugehen; vielen hat man sie bereits wieder vor der Nase zugeschlagen.

 

Türen wohin? Zu den alltäglichen und vielfältigen Räumen des Lebens und Arbeitens? Zu den Männerorden des Kapitals, der Macht, des Geldes? Zu allen Chambres Séparées und Büroeremitagen der Welt? Die Türen allein können es nicht sein, worum es geht. Zuerst: Was wollen wir? Welche Räume? Und wozu?

 

Wir wollen nicht Macht, sondern Mitverantwortung, sagen wir, mit Routine. Weil wir immerzu den Preis mitbezahlen, den die Entscheidungen anderer kosten. Wir wollen die Kosten-Nutzen-Rechnungen mitverfertigen. So der nüchterne Wunsch, durch die Türen zu gehen, auf denen bisher "For men only" stand. Nicht weil wir es besser machen, sondern weil wir hineingehören, wie alle andern auch. Dass wir das Weltchaos auf den Chefsesseln einfach wegputzen, wer mag das noch glauben, hinsetzen wollen wir uns trotzdem. Worum es aber noch immer und immer wieder geht: Alle Menschen, Frauen und Männer, haben das Recht auf ausreichende Nahrung, auf Bildung, auf Einkommen, Wohnung, politische Mitverantwortung, auf Würde. Auf Glück! Und das heisst: "fähig zu sein, bis zum Ende eines vollständigen menschlichen Lebens leben zu können, soweit, wie es möglich ist"; "fähig zu sein, eine gute Gesundheit zu haben"; "fähig zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erlebnisse zu haben"; "fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen; fähig zu sein, zu phantasieren, zu denken und zu schlussfolgern"; "fähig zu sein, Bindungen zu Dingen und Personen ausserhalb unserer selbst zu unterhalten"; "fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen"; "fähig zu sein, für und mit andern leben zu können"; "fähig zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und der Welt der Natur zu leben"; "fähig zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu geniessen."(Martha Nussbaum)

 

Das alles steht Frauen zu – damit dies möglich ist, dazu braucht es Schlüssel für Türen, hinter denen darüber entscheiden wird.

 

Auf alle möglichen Arten haben Frauen weltweit seit Jahrhunderten versucht, sich Räume zu erschliessen: Mit Intelligenz, mit Ressourcen, geboren aus Schmerz und Wut, mit Tücke auch; nicht immer zu aller andern Frauen Nutzen. Das ist heute nicht anders. Als Schlüssel gelten bei uns etwa: Zähigkeit, berufliche Qualifizierung, Delegation von Haus- und Familienarbeit, Ehrgeiz, Sex, Schönheit. Nicht überall geht es so, manches funktioniert, einiges ist verallgemeinerbar. Auch die Ausweichmanöver jener, die keine Frauen in ihren Allerheiligsten wollen, was immer das ist. Die Furcht um ihre Macht und ihr Geld, Fäden, an denen sie auch die Frauen zappeln und tanzen lassen können im grossen Marionettentheater.

 

Ja, es geht auch um Macht, um Geld, um die Schlüssel zum Notwendigen, zum Überleben und zum Überschüssigen, zum Luxus. Wieso nicht. "Geld ist geprägte Freiheit"(Dostojewski) – Frauen wissen das, seit alters her.

 

Trotzdem erträumen wir auch das: Das paradiesische Bild von Frauen, die Räume auftun und es sind keine Bankettsäle und luxuriöse Salons, eher etwas in der Art von Wohnküchen: Es werden dort die vielfältigen Beigaben zu einem guten Leben für alle zusammengeschüttet und die Essenz gemeinsamen Lebens schmeckt tatsächlich; das Herdfeuer wärmt, niemand bleibt draussen vor der Tür, den Fremden wird Gastrecht gewährt und das Brot gebrochen.

 

Utopisch! Der Himmel auf Erden! Wir beten sie problemlos her die Litaneien, dass es unmöglich ist, dass es nicht funktioniert, dass wir zu verschieden sind, zu selbstbezogen, zu gefühllos, zu schwach und wir vergessen dabei den Übermut, der in den Hymnen steckt und das auch das Herbeten des Unmöglichen uns Not tut, um zu wissen, wohin wir trotz allem wollen.

 

Mit Türen fängt es an – auch damit, was wir hinter den Türen erwarten: "Die meisten Menschen scheitern an der Ungenauigkeit ihrer Wünsche"(Eva Heller) – ein anderes Wort für die Schlüssel dazu?

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay