Menschenrechte

 

Angesichts des Alters des Menschen sind seine Rechte jung. Kaum geboren und noch immer Neulinge in der Welt, ein Versprechen in die Zukunft, ohne raumgreifenden Schritt, mehr Stolpern und Umfallen als Vorwärtsgehen.

 

Leicht wie Kinder sind sie, die Menschenrechte, gehören zum erträumten Guten in der Welt, wollen das Leiden in der Welt vermindern, die Menschen schützen vor Unterdrückung, Erniedrigung, Übergriffen und Grausamkeit, insgesamt ihr eigenverantwortliches Handeln garantieren. Dieser Traum ist schön. Ihn zu träumen erfüllt uns mit Stolz. An unseren Wünschen soll es nicht liegen. Was zu tun wäre und woran es uns mangelt, wissen wir. Und doch fehlt dem Ganzen die Leichtigkeit eines Traums. Man trägt am Erträumten schwer. Nicht allein an seiner Umsetzung, mehr noch an seinem Scheitern. Aber immerhin ist es nicht beim Träumen geblieben. Der Traum hat Hand und Fuss bekommen, hat etwas in Bewegung gesetzt und handhabbare Instrumente geschaffen. Er hat universelle moralische Werte in die Welt gesetzt. Und die Welt wird sie nicht mehr los. Die Instrumente werden tatsächlich genutzt. Man verständigt sich mit ihnen über das, was dem Menschen zu seinem Wohl Not tut, sucht nach einem Minimalkonsens darüber, was ein gutes menschliches Leben ist. Die Instrumente sind manchmal zu grob, es fehlen wichtige Anwendungsbereiche, sie werden allzu oft auch einfach aus der Hand gelegt, nicht benutzt, als störend empfunden, aber es gibt sie und sie lassen sich verbessern und verfeinern.

 

Jahr für Jahr feiern sie Geburtstag, die Menschenrechte. Sie werden immer älter und bleiben trotzdem jung. Pragmatismus und Sich-Bescheiden sind hinzugekommen – man nennt es Erwachsenwerden –, und doch ist der grosse Traum und das unbequeme Fordern erhalten geblieben. Zuviel ist noch immer nicht eingelöst, wartet noch auf ihren Einspruch und die Mittel, dem Einspruch Gehör zu verschaffen. Sie bleiben weiterhin der Sand im Getriebe einer Welt, das geschmiert mit Blut und Geld, ohne sie noch reibungsloser funktionierte.

 

Die Menschenrechte und mit ihnen jene, die für ihre Umsetzung kämpfen, halten fest am uralten Traum, der Mensch möge dem Menschen mit Respekt begegnen. Weil er ein Mensch ist. Sie tun es mit Mut und mit Leidenschaft. Sie lassen nicht nach, in der Welt nach dem Rechten zu sehen. Sie haben nicht immer Erfolg. Sie haben bloss das Recht auf ihrer Seite, aber nicht die Macht, das Rechte durchzusetzen.

 

Aber die Menschenrechte sind noch jung, erst seit kurzem in der Welt. Das sieht man auch der Welt an. Solange das so bleibt, solange geben sie weiterhin zu denken und zu tun.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay