Löcher

 

Ein Loch ist ein Loch. Das besagt nicht viel. Eigentlich gar nichts. Vielsagend ist, wo es sich befindet: in einem Öltank, einer Argumentation, im Kopf, im Weltall oder in der Tasche. Das Loch, das mich beschäftigt, befand sich in der Socke des Weltbankpräsidenten Wolfowitz. Und das Loch ging um die Welt. Als Photo von einem Moscheebesuch, das ihn ohne Schuhe zeigt. Die Welt bewegt es nicht, aber ein wenig die meine.

 

Ein Loch in einer Socke macht noch keinen Menschen. Sicher? Sicher! Der Blick hinter die Fassade entdeckt nicht immer die eigentliche Wahrheit. So als wäre aussen die Lüge und innen, versteckt und den Blicken entzogen, das wirkliche Leben. Und dieses wirkliche Leben, das uns ein verborgenes Loch ans Licht bringt, besagte: Es gibt da einen zwar sehr mächtigen Mann, aber unter seinen Kleidern aus Macht, Einfluss und Geld ist er einer wie ich und du. Nachlässig, vergesslich, schlampig.

 

Solche Schlussfolgerungen lieben wir. Sie verringern Abstand und Gefälle, die uns zu schaffen machen. Solche, die aus Privilegien bestehen, die unsereins nicht hat. Phantasien über Hornhaut an den Füssen, Schuppen oder nicht ganz saubere Unterhosen sagen, im Grunde und letztendlich sind wir alle gleich. Eine durchaus vertretbare Illusion. Aber ein Illusion. Eigentlich müssten wir sie vor uns sehen können, Tag für Tag, die Ebenen, auf denen wir uns alle bewegen. Wie die Stockwerke eines Hauses. Wir müssten sie sehen könne, die Zuteilung des Raumes – geschaffen durch Geld, Einfluss, Entscheidungsmacht, Privilegien, Herkunft – dieses klare Oben und Unten. Und dann diese Wenigen ganz oben und diese Milliardenmasse ganz unten. Und wie sie dort oben entscheiden, rechnen, planen, in die Wege leiten und was damit unten geschieht. Den Menschen geschieht. Wer täglich mit Macht in der Welt herumhantiert, vergisst vielleicht nicht nur das Loch in der eignen Socke, sondern auch die Löcher in seiner Wahrnehmung der Welt, wie sie für die Mehrheit existiert.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Essay