Ich war einmal ein denkender Mensch ...

 

Was bleibt vom Denken, Nachdenken, Hinterfragen in Zeiten der Meinungen, der Informations- und Wissensflut?

 

Ich war einmal ein denkender Mensch, vor vielen Jahren. Ich hatte viel gelernt, über alles Mögliche und über viel Unmögliches auch, habe Schul- und andere Weisheiten erworben, nachgedacht über das Leben und die Welt im Allgemeinen und im Besonderen. Das war anstrengend, beglückend, manchmal schwindelerregend, aber das Werkzeug hatte ich beisammen, alles war da, dem, was geschah, geschehen war und noch im Gang, ordnend beizukommen.

Geblieben davon ist das Hantieren. Mit den Werkzeugen. Die habe ich behalten. Immer wieder etwas geputzt und geschliffen, aber im Grossen Ganzen sind es noch dieselben. Geändert hat sich trotzdem alles.

 

Geblieben davon ist das Hantieren

 

Was früher zumindest den Anschein chirurgischer Sorgfalt und Präzision in der Analyse mannigfaltiger Sachverhalte besass, ist zu einem hilflosen Herumfuchteln geworden. Eher dem Abwehren als dem Verstehen zugeneigt. Die Instrumente sind zwar geschärft, aber der Gegenstand flüchtig. Ein kurzes Hinschauen, ein Abtasten der Konturen und schon ist er wieder weg. Es wartet ja der nächste und der übernächste und der überübernächste einer unübersichtlichen und nicht enden wollende Kolonne in Form von Ereignissen, Themen, Debatten, Theorien, Denkansätzen. Und das Resultat? Hier ein paar Ansichten, da ein paar Meinungen, gemixt aus den einmal erworbenen Grundsätzen und Welthaltungen und mannigfaltigen Zeitungsartikeln und Feuilletontexten. Sieht nicht gut aus, dieses Ratatouille der Gedanken, und sorgt weder für Übersicht noch für die Sättigung des Bedürfnisses nach Beruhigung in einer Welt, in die man blickt wie in einen Strudel, faszinierend zwar, aber vor allem unheimlich und beängstigend. Gerettet aus alten Tagen bleibt immerhin der Verdacht, dass auch den eigenen Vorstellungen und Haltungen nicht immer zu trauen ist und ein innerer Vorbehalt gegenüber den eigenen Überzeugungen angebracht. Nicht, um sie jederzeit aufzugeben, sondern um sie immer wieder neu zu begründen. Das klingt doch mal gut. Irgendwie erwachsen.

 

War „die Welt“ und das Nachdenken über die Welt und sich selbst in dieser Welt nicht immer schon eine Nummer zu gross?

 

Aber war das denn nicht immer so? War „die Welt“ und das Nachdenken über die Welt und sich selbst in dieser Welt nicht immer schon eine Nummer zu gross? War der verhängnisvolle Satz „alles, was geschieht, geht dich an“ nicht immer schon eher Verurteilung als Ansporn, ein nie einzulösender Anspruch, verantwortlich zu sein?

 

Und ist inzwischen alles nur eine Frage mangelnder Zeit und Musse, um nachzudenken, sich zu vertiefen? Ein wachsendes Unvermögen, sich nicht abzulenken und wegzulenken vom einen zum andern, konzentriert zu sein, Schritt um Schritt und eins nach dem anderen zu tun, statt alles nebeneinander her und nur flüchtig und mit leichtfertiger Leichtigkeit? Ganz und gar unangemessen den Gegenständen, mit denen man es zu tun hat, die schwer sind, gewichtig, wie Eisen an den Füssen, ganze Blöcke, die man mitschleppen müsste? Wenn man denn wüsste wohin und was damit gewonnen ist.

 

Ich stelle mir vor, es gibt ExpertInnen…

 

Ich stelle mir vor, es gibt ExpertInnen, zum Beispiel Astrophysikerinnen, Ökonomen, Maschineningenieure, Philosophinnen, Historikerinnen, Informatikerinnen, Mathematiker, und diese ExpertInnen, so stelle ich mir das vor, die wissen vielleicht von allem etwas, aber die haben auch ein Spezialgebiet. Und in diesem Spezialgebiet sind sie gut und kennen sie sich aus, auch wenn sie nie damit fertig werden, sich auszukennen. Aber immerhin. An einem kleinen Flecken dieses Universums von Fragen und Gegenständen und Vorhaben und Ereignissen kommen sie dem, was Wissen ist und dem Wissen um die Grenzen von Wissen nahe. Diese Menschen beneide ich.

 

… sie kommen dem, was Wissen ist und dem Wissen um die Grenzen von Wissen nahe

 

Ich beneide sie darum, dass sie in jeder Runde und an jedem Tisch voller Begeisterung von Quarks und Quanten und Axiomen und Datenflüssen und physikalischen Gesetzen und Marktereignissen und Barbaren, die gar keine Barbaren waren, erzählen können. Fundiert, reich an Fakten und Zahlen und aufregend spannenden Zusammenhängen.

 

Ich beneide alle, die etwas wissen und es nicht in einer Woche bereits wieder vergessen haben und sich fragen müssen, ob sie einfach alt werden oder ob der Gegenstand des Interesses eben doch nicht genügend Interesse wachrief und nur Sammelleidenschaft war.

 

Ich beneide alle, die skeptisch sind und doch nicht Gefahr laufen, gar nichts mehr zu glauben und niemandem zu vertrauen, und zu behaupten, dass es keine Wahrheit gibt und alles nur eine Frage der Perspektive und des Interesses ist.

 

Denken statt meinen, fragen nach dem, was wahr ist, wissen wollen statt vermuten?

 

Und doch bleibt zu fragen: wozu das alles? Denken statt meinen, fragen nach dem, was

wahr ist, wissen wollen statt vermuten? Geht es um Eitelkeit? Um Verantwortung? Um die Befähigung zum Handeln und Entscheiden? Um Selbstrespekt? Weil es sich so gehört, um ein anständiger Mensch zu sein?

 

Sicher! Auch! Aber … es ist doch alles unendlich viel spannender und aufregender, wenn die Augen gross werden und die Ohren gespitzt sind und man sich seines Verstandes bedient, Tag für Tag; wenn man ihn bewegt, füttert, tränkt, in Schwingungen versetzt, sodass er vibriert und sich in die Höhe schraubt und in die Tiefen bohrt. Keine Selbstzweifel, keine Fragen nach Sinn und Zweck und Nutzen in einer Welt, in der unverhohlen die Interessen weniger regieren, können diese Lust am Wissen und Verstehen wollen unterbinden.

 

Es ist doch alles unendlich viel spannender und aufregender, wenn die Augen gross werden und die Ohren gespitzt sind und man sich seines Verstandes bedient.

 

Ich war einmal ein denkender Mensch, vor vielen Jahren. Der Satz stimmt und stimmt melancholisch, aber alles in allem ist das Wesentliche noch da: das tiefgreifende Vergnügen, die begründete Skepsis und die Vorstellung, denken sei trotz aller Zweifel so etwas wie eine Unterstützung zukünftigen Lebens.

 

Silvia Strahm

 

 

© Silvia Strahm 2018 / Essay / www.feinschwarz.net