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Ein neues Jahr? Neujahr
Niemand glaubt, dass das neue Jahr ein neues Jahr wird. Und man ginge hinein wie in einen leeren Raum und machte die Türe hinter sich zu. Und atmete auf.
Oder das Neue Jahr wäre ein unbeschriebenes Blatt. Und wir könnten darauf schreiben, was wir uns wünschen. Was wir brauchen, unbedingt wollen, was sein muss. Es verteilt keine Wunschzettel an der Tür, das neue Jahr. Es ist wie immer. Es lässt uns hinein, die meisten von uns. Mit unseren Gläsern in der Hand und dem Feuerwerk und der Euphorie und den Überresten an Magie. Denn es ist auch so: Niemand glaubt, dass da nicht doch ein Zauber ist in diesem Übergang. Wider besseres Wissen glaubt niemand, dass alles beim Alten bleibt. Beim Alten, das ja immer auch ein Mischung ist aus Vertrautem, Gewohntem und Neuem, noch nie Gesehenem.
Es soll etwas Besonderes geschehen, an diesem Übergang. Mit uns, mit der Welt. Wir sind unbelehrbar, in unseren Köpfen ist Raum für Verrücktes, noch nie Gedachtes, für Tausende Wünsche, aber auch für das Mögliche, das sich gegen die Macht des Wirklichen immer wieder von neuem wehrt. „Wer es könnte, die Welt hochwerfen, dass der Wind hindurchfährt.“ So hat es die Dichterin Hilde Domin beschrieben, dieses Verlangen danach, dass das Alte durcheinander gerät und sich zu etwas Neuem fügt, damit es Raum gibt, etwas anderes zu denken, etwas anderes zu tun – den „notwendenden“ Raum für die Phantasie.
Nach vorne – und zurück
Der Gott Janus steht am und für den Anfang. Jahr für Jahr. Er markiert den Übergang vom vergangenen zum neuen Jahr. Doppelköpfig ist er, schaut zurück, schaut nach vorn und macht ihn deutlich, den ewigen Zwiespalt. Dass man etwas zurücklassen muss, um etwas zu gewinnen: den unbekannten Raum, die neuen Möglichkeiten, einen offenen Horizont.
Aber dass man auch beides im Blick behalten muss. Zurückschauen und Vorwärtsgehen in einem, weil im Zurückschauen auch das Vorwärtsgehen erst seinen Sinn ergeben mag, beides sich notwendig ergänzt. Unmöglich eigentlich, diese beiden Bewegungen, hinderlich, bremsend, schmerzhaft Reibung erzeugend, aber vielleicht überlebenswichtig. Ohne das Gewicht des Vergangenen, ohne die Fähigkeit des Erinnerns, könnte das eintreten, was Franz Kafka mit der „leeren, fröhlichen Fahrt“ unnachahmlich präzise beschrieb: „Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher geht’s – nämlich nicht das Ausreissen des Blockes aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreissen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt.“
Ohne Ballast?
Die leere fröhliche Fahrt, losgerissen von der Vergangenheit, dem Gewicht dessen, was war und sich ergab, ins Neue unterwegs, ohne Ballast. Verluste sind ein Teil der Bewegung nach vorn, nichts mehr, nichts weniger. Fröhlich ist sie, die Fahrt, aber ohne Gewicht.
Dass die leere Fahrt keine fröhliche sei, es ist die Sicht jener, denen alles zu schnell geht, unbedacht schnell, gewissenlos schnell. Denen das Neue keinen Vorrang vor dem Alten hat, die das Neue für rechenschaftspflichtig halten gegenüber dem, was war und bisher taugte. Wenn auch das meist schlecht statt recht. Es ist die Sicht jener, die die Langsamkeit vorziehen und denen „mit Bedacht“ durchaus erstrebenswert scheint. Vielleicht haben sie Recht. Vielleicht spielt Recht haben längst keine Rolle mehr.
Die Schlüssel zum Himmel
Der Gott Janus, der doppelköpfige, der zwiespältige, er schliesst den Himmel auf und er schliesst den Himmel zu. Er hat die Schlüssel in der Hand. So beschreibt man ihn. Die Idee ist verlockend, dass uns jemand den Himmel aufschliesst. Wenn wir denn wüssten, was der Himmel ist. Jenseits süsser Versprechungen und privatem Glück. Himmelsschlüssel und Himmelsleitern … alte Bilder für den Weg ins erträumte, wenn auch jenseitige Glück. Dieser Raum gehört inzwischen den Weltraumsonden und unserem Müll.
Kein Gott schliesst uns mehr den Raum für das Neue auf. Die Schlüssel sind in unsereins Taschen. Gut verwahrt und den meisten verwehrt. Das Neue, scheint es, passiert einfach. Passiert unsereins einfach. Es wird entwickelt, angestossen, durchgesetzt – einige Köpfe, ihre Interessen, ihr Geld haben die Schlüssel dazu in der Hand. Auch ihre Macht hat etwas Universales.
Unsere Welt ist diese eine fragile kleine Kugel in einem unendlichen Universum, und ein paar wenige spielen damit. Der Rest fügt sich, versucht, aufs Spielfeld zu gelangen, gar das Spiel zu stören, aber es scheint, als fehle der Mehrheit die Phantasie, das Spiel zu beenden.
… dass es auch gut gehen könnte
Wenn man im Anfang bereits das Ende sehe, dann gäbe es keine Hoffnung mehr, schreibt Ayi Kwei Armah. Nur: Das Ende sehen ist einfach, es gibt viele guten Gründe, im Anfang das Ende zu sehen. Es ist einfacher als den Beginn von etwas zu sehen, das auch gut gehen könnte. Besser als erwartet.
Am paradiesischen Baum wachsen nicht nur Äpfel der Erkenntnis, an ihm wachsen auch „birnengrosse Phantasien“, schrieb Hugo Lötscher. Pflücken muss man beides, die Äpfel der Erkenntnis von dem, was gut ist und was böse, und die Birnen der Phantasie. Schaut man sich die Welt an, möchte man meinen, es blieben beide Früchte hängen. Und doch soll man uns an unseren Früchten erkennen, darauf beharrt die jüdisch-christliche Tradition. Nicht an denen, die wir an den Bäumen hängen lassen, als Idee, als Traum, sondern an denen, die sich sehen lassen in dem, was wir tun. Dass wir nicht nur blühende Phantasien vom guten Leben für alle haben, sondern aus diesen Blüten Früchte werden, fassbare, essbare, nährende, es wäre uns allen zu wünschen.
Der Zauber des Anfangs
Im Anfang steckt ein Zauber, der bringt vielleicht sogar die Vernunft zum Tanzen. Der lässt uns glauben, dass wir nur etwas mehr Mut bräuchten, um unserer Neugier zu folgen, die es nicht nach Sicherheit verlangt und verschlossenen Räumen und gehorteten Schätzen, sondern nach einem Leben, das einen treffen kann wie „Wetter ohne Schirm“.
Der Zauber des Anfangs eines jeden Neuen Jahres erlaubt das Träumen. In unseren Träumen sind wir besser als wir sind. Da ist Überschüssiges an Hoffnung und an Mut. Da steckt etwas von jener weltenschaffenden Kreativität, die in uns einen Funken Göttlichkeit sieht. Als Auszeichnung und als Aufforderung, die Welt als einen Garten zu betrachten, den zu hüten und zu pflegen uns allen aufgetragen ist.
Hoffnung ist in jedem Anfang, wenn Hoffnung nicht die Überzeugung meint, „dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ (Vaclav Havel)
Silvia Strahm
© Silvia Strahm 2017 / Essay / www.feinschwarz.net |
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