Jesus goes Bar 58

 

Weihnachten ist vorbei. Jesus nicht. Nicht meiner. Wobei meiner nicht der richtige Ausdruck ist. Er steht einfach in meiner Strasse. Ich gehe jeden Tag an ihm vorbei. Er deutet auf sein Herz. Das entblösste rote mit dem Strahlenkranz. Er schaut mich nicht an. Er schaut auf sein Herz, wie alle, die vorübergehen. Das Fenster, in dem er steht – als lebensgrosse Statue, in verblassendem Glanz –, gehört zu einer kleinen Bar. Die Bar hat zwei Schaufenster. Im einen sind leere Weinflaschen zu einer Pyramide geschichtet; das andere füllt Jesus mit seinem augenfälligen Herz. Ich schaue ihn an, Tag für Tag. Wie er da steht, nicht im Weinberg Gottes, aber immerhin vor einer Bar. Drinnen wird geredet, Musik gehört, geraucht, getrunken, es ist immer voll, es ist immer laut, ein Kommen und Gehen. Abend für Abend. Sein angestammtes Haus, ein paar hundert Meter weiter, ist die meiste Zeit leer. Er steht da, im Fenster der Bar 58, alleine, mit seinem offenen Herzen; er tut mir leid. Man hat ihn schon mal verspottet. Und dem Spott war es tödlich ernst. Hier, in seinem Fenster, mit Plastikrosen bekränzt, wird er zum blossen Witz. Nur lustig ist er nicht, der Witz. Nicht für jene, die ihn noch kennen, den bärtigen Mann mit seinem blossgelegten Herzen. Warum er da steht, ich weiss es nicht. Ich weiss nur, was man von ihm erzählt: er mischte sich gerne unter die Fresser und  Säufer, zog die meiste Zeit herum – nicht von Bar zu Bar, aber von Ort zu Ort. Mit seinen Freundinnen und seinen Freunden, umtriebig, ruhelos, den grossen Worten und Gesten zu- und dem Wein nicht abgeneigt. Es könnte ihm gefallen, drinnen in dieser Bar.

 

Aber man lässt ihn nicht rein. Er bleibt draussen, in seinem Fenster, nahe der Tür. Was gut zu einem passt, der nie so recht passt. So gesehen steht er hier genau richtig.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2013 / Essay