Betteln

 

In meiner Stadt bekommt das Betteln seit kurzem ein neues Gesicht. Sein Repertoire verändert sich. Der Satz „Häsch mer än Stutz?“ beispielsweise ist völlig verschwunden. Mit ihm die Frau, die sich einem damit in den Weg stellte. Ihr Satz war gradlinig, die Botschaft klar. Inzwischen klingt er verschnörkelter: „Es tut mir leid, dass ich sie stören muss, aber hätten sie mir vielleicht etwas Geld für die Notschlafstelle?“ Ob es eine Weiterbildung für Bettelnde gibt? Einen Ausbildungsgang „Wie positioniere ich mich persönlich im ausgereizten Spendenmarkt?“ Ich gebe zu, die dem monetären Verlangen hinzugefügte Freundlichkeit besticht mich. Mehr als die angedeutete, jedoch diffuse Situation der Not. Im Zentrum steht unbestritten nach wie vor Geld, Halbwahrheiten tarnen die realen Interessen. Man weiss, dass man übers Ohr gehauen wird und behilft sich mit Ironie. Die Höflichkeit der Frage bleibt dennoch ein gutes Schmiermittel für den erwünschten Geldfluss. Noch besser ist natürlich Musik. Oder ein Kunststück. Irgendeine Gegenleistung, irgendetwas, das man mit gutem Gefühl bezahlen kann. Die Bettelnden sind deshalb noch keine Strassenmusikanten oder Jongleuren. Immerhin aber reduziert sich die Scham beiderseits aufs verträgliche Mass.

 

Und nun taucht im gewohnten Spektrum ein weiteres, bis anhin unbekanntes Bild auf. Ein nicht bloss unangenehmes, kein lästiges, eher ein beklemmendes. Ich schaue nie richtig hin. Ich kenne es nur aus den Augenwinkeln. Der da bettelt ist ein jüngerer Mann. Er kniet auf einem Kissen an wechselnden Orten in der Innenstadt. Er sagt nichts. Kein Wort, das irgendetwas erklärte, nirgends ein Karton, vollgeschrieben mit ungelenken Sätzen. Er hält einen kleinen Teller hin. Sein Betteln ist nackt. Ohne Schnörkel. Ohne Kunstfertigkeit. Der Wunsch nach Geld ist nicht überschminkt, eingekleidet und ausstaffiert mit Geschichte(n) und Schicksal. Es gibt keine stillschweigende Übereinkunft, dass einem das Geben zu erleichtern sei, nicht das kleinste Entgegenkommen, nur diese wortlose geduldige Demut mit ihrer Patina der Entwürdigung. So weit kann einer bereit sein zu gehen. Ich möchte nicht wissen, wie weit das ist. Ich möchte mir die Geschichte dazu nicht vorstellen. Wut nicht Mitleid stellt sich ein. Über den unüberwindlichen Graben, darüber, auf der falschen Seiten zu stehen, das Kamel zu sein, das niemals durch das Nadelöhr geht. Über das immer wiederkehrende  Spiessrutenlaufen durch mancherlei Not. Ich bin doch nicht so, wie es scheint! Und bin es doch, in irgendeiner Weise bin ich es doch. Nicht nur meine Stadt bekommt immer wieder ein neues Gesicht, auch ich.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2013 / Essay