Abspecken

 

„Die fetten Jahre sind vorbei“. Das ist nicht nur die cineastische Botschaft des gleichnamigen Filmes, das ist tägliche Drohrede. Im Film galt sie den „Reichen“, jenen, die zu viel von allem haben. In den Kanzelreden der PolitikerInnen gilt sie unsereins, jenen unter uns, die noch immer an soziale Verantwortung glauben und an die dazu notwendigen Budgets und  Umverteilungsmassnahmen. Dieser Glaube ist aber ein falscher, Folge von Trägheit und kindlicher Anspruchshaltung. Wir müssen endlich erwachsen werden. Fit für den Kampf, den das Leben leider Gottes nun einmal ist. Und dazu tut als erstes Abspecken Not. Rundum herrscht ja ein Übergewicht. Unsere Kinder sind zu fett, wir sind zu fett, unser Staat ist zu fett, unsere Erwartungen und Träume sowieso. Das schneidet man jetzt weg. Da und dort bis auf die Knochen. Ein paar Muskeln lässt man stehen, damit wir in Bewegung bleiben und weiter rennen und wirken und werkeln für unser eigenes Wohl. Das ist natürlich völlig übertrieben. So schlimm ist es nicht und die Diät, die uns verordnet wird, dient ja doch der längerfristigen Garantierung unserer Gesundheit. Und der schaden nicht nur der Hamburger und die Chips, sondern auch ein zu aufgeblähter Sozialstaat. Ein Staat ist schliesslich kein Airbag und leben geschieht auf eigenes Risiko. Was wird doch diese verschlankte Gesellschaft für Überlebensenergien freisetzen! Auf das Notwendige heruntergehungert, werden wir wieder lernen, wie weite Teile der Welt, Ideen zu entwickeln, Neues zu denken. Derweil wird der abgespeckte Speck in Vorratskammern gehängt. Irgendwo muss er ja hin und die Regel lautet immer: für die einen die Diät, für die andern den Speck. Und wir werden staunen, wie viel Speck da hängt, aber wir werden keine Mäuse sein. Wir werden sagen: Speck muss sein, damit es uns allen gut geht. Und mit dieser neuen Hymne auf den Lippen reduzieren wir nicht nur überschüssiges Fett, sondern auch überschüssigen Verstand. 

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2013 / Essay