Fastenopfer-Agenda 2006

 

Du hast meine Klagen in Tanzen verwandelt, hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet. (Ps 30)

 

Den Frauen das Klagen, den Männern das Töten. Die Arbeitsteilung ist alt. Sie verläuft nicht immer entlang dieser Grenze, aber meistens. Nur manchmal tun die Frauen mit, reichen die Waffen, quälen und töten selbst. Wahrscheinlicher ist, sie gehören zu den Opfern; wahrscheinlicher ist, sie kommen, nicht um zu töten, sondern um die Toten zu beklagen. Um aufzuräumen, um aus den Resten so etwas wie Leben zusammenzuflicken. Wie sie es seit jeher tun, in der Zumutung, weiterzuleben.

 

Aber Weiterleben reicht nicht. Das Klagen soll sich in Tanzen verwandeln. Der Schmerz in Schönheit, in Selbstvergessenheit, in nichts weiter als den Augenblick. Keine Erklärungen werden gegeben, keine Versprechen, keine Hölle für die Mörder, kein Paradies für die Opfer, aber die Klage, die sich in Tanzen verwandelt. Das Trauergewand wird ausgezogen. Der schwere Fuss der Trauer bewegt sich im uralten Rhythmus des Lebens, der aus Schwere ist und Leichtigkeit, aus Melancholie und Heiterkeit, aus Fallen und Fliegen. Kein Versinken im Schmerz, aber in der Leidenschaft und im Vergessen, in der heilenden Choreografie der Sinne. Der Tod ist weit weg und ohne Kraft. Für diesen Moment. Es gibt nur diesen Schritt und den nächsten – die Gnade der Gegenwart und des Augenblicks, in dem Gott sprach: „Es gibt auch Schönes in der Welt.“

 

 

Gott spricht, das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. (Amos 5,24)

 

Gerechtigkeit ist ein knappes Gut, kostbar, lebensnotwendig, doch ungleich verteilt, wie das Wasser. Den einen fliesst es zu, den anderen versickert es, ohne Nutzen und Frucht. Die einen kaufen es sich, für andere ist es unbezahlbar. Wie ein nie versiegender Bach, soll sie strömen, die Gerechtigkeit. Wie ein Bach, an dem wir sitzen, aus dem wir trinken, dem wir zuschauen, nachdenklich, die Füsse hineingetaucht, die wir uns kühlen lassen nach dem beschwerlichen Gang. Der Traum vom Leben, wenn alles gelänge. Wie es sein könnte, wir können es wortreich beschreiben. Wie es Realität wird? Seit ewigen Zeiten üben wir es. Übersetzen Theorie und Traum in verhandelbare Gerechtigkeit und nüchterne Sätze des Rechts. Das erkämpft werden muss und wozu Einmischung nötig ist, Teilhabe, Streit und Ausgleich. Das ist kein sanftes Plätschern. Kein Bach, der sich seinen Lauf selber schafft. Eingriffe sind notwendig, Begradigungen, Steuerung, Verteilsysteme, Kontrolle, damit es das Leben aller garantiert. Mehr als das blosse Leben. Das gute Leben. Für alle. Den Zugang zu Nahrung, Gesundheit, Wissen, Arbeit, Information, Macht, Lust und Spiel.

 

Vor diesem Recht gibt es weder Mann noch Frau, weder arm noch reich. Gerechtigkeit ist für alle oder sie ist nicht. So einfach ist das und so endlos schwer.

 

 

Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheissung, in welchen Gerechtigkeit wohnt. (2 Petr 3,13)

 

Warten allein hilft nicht. Nicht, wenn wir etwas davon sehen wollen. Jetzt und nicht erst, wenn alles zu Ende geht. Diese neue Erde, sie rollt nicht vor unsere Füsse, damit wir sie bloss aufzuheben brauchen. Und auch der neue Himmel öffnet sich nicht ohne weiteres dem erwartungsvollen Blick. Warten gehört dazu. Sich Zeit lassen, hinsehen, prüfen, was zu tun ist und in Gang setzen, was Sinn macht. Sehen, was daraus wird und es allenfalls ändern. Warten ist ein Teil davon. Und Geduld. Auch Ausdauer, im Tun und im Hoffen, nach jedem Scheitern, das unumgänglich ist. Aber Warten genügt nicht. Und wir haben nicht alle Zeit. Das Leben übt zwar, aber es ist nicht die Hauptprobe, sondern bereits die Premiere. Gerechtigkeit ist nichts für ein Irgendwann. Es reicht nicht, sie an den Horizont zu malen, um das Dunkel aufzuhellen. Um uns glauben zu lassen, dass sie in unserer Reichweite liegt. Später vielleicht. Nur jetzt noch nicht. Weil wir halt sind wie wir sind, auf den eigenen Vorteil bedacht, was nur normal ist.

 

So normal, dass es verrückt ist, ein Wunder gar, dass an einer neuen Erde noch immer gearbeitet wird. Jetzt. Schritt für Schritt. Einfach darum, weil es keine Alternative gibt, weil es sein muss. Weil später viel zu spät ist.

 

 

Dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. (Ps 85,11)

 

Die Gerechtigkeit und der Friede – ein Traumpaar, göttlich beinahe. Zwei Hauptrollen, gegen das Klischee besetzt. Das die Welt ordnende gerechte Tun eine Frau, die zur Ruhe gekommene Welt ein Mann. Eine eigenwillige Geschlechterchoreografie, zumindest in der Sprache, wenigstens in der Sprache. Für einmal ist alles auf den Kopf gestellt und wird zum „was wäre wenn“: wenn Frauen bestimmten, wie Gerechtigkeit aussieht, endlich auch für sie. Ort für Ort, Land für Land, weltweit, theoretisch und konkret. Wenn sie umsetzten, was zu oft Einwand bleibt und heimlicher Traum. Und was wäre, wenn Männer die grossen Gesten aufgäben und die anmassenden Rituale der Macht und zuständig würden für das bescheidenere alltägliche Einüben und Erhalten dessen, was Gerechtigkeit meint und Friede ermöglicht. Eine falsche Alternative, dieses „was wäre wenn“, gewiss. Längst verlaufen die Geschlechtergrenzen nicht mehr so klar, nicht überall, und so soll es auch sein und weitergehen. Weil es allemal besser ist, es sind alle gleichermassen beteiligt am Schaffen gerechterer Zustände und einer friedlicheren Welt, ungeachtet ihres Geschlechts. Damit sich Gerechtigkeit und Friede ineinander verlieren, wie ein Liebespaar. Und es gleichgültig ist, wer wer ist, wenn nur der Kuss sie einander nahe bringt und Leidenschaft die beiden lebendig hält.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2006 / Essay