Zu Reich

 

Wer hat, dem wird gegeben. Das steht in der Bibel und in der Zeitung steht es auch. Immer wieder lese ich es, reibe mir die Augen und will es nicht glauben. Naivität lässt sich offenbar nur schwer kurieren.

 

Gerechtigkeitsempfinden auch. Den Tatsachen zum Trotz verteidigen die beiden hartnäckig mein Aber und mein Nein. Sie wollen nicht klug werden. Nicht, wenn klug werden heisst, sich ins Gegebene zu schicken wissen. Noch werde ich wütend, noch habe ich mir die Empörung nicht abtrainiert. Vielleicht bloss aus Furcht, mit der Empörung verschwänden auch bald Rückgrat und Moral, lösten sich auf im müden Ergeben ins Unvermeidliche: „So war es immer schon und so wird es immer bleiben“.

 

Empörung ist lächerlich. Sagen mir die Realisten. Wer, wenn nicht sie, sehen den Menschen, wie er wirklich ist, haben den Mut, den Tatsachen ins Auge zu schauen und den Lack von seiner Fassade zu kratzen. Was dabei ans Licht kommt, ist nicht unbedingt schön. Aber wahr. Die Substanz eben, ohne Schnörkel und Glanz. Die Realistinnen sind ohne Illusionen. Sie sind vorbereitet.

 

Ich bin nicht vorbereitet. Ich weiss zu viel und ich glaube zu wenig. Mein Wissen ist zwar gross, aber mein Unglaube auch. Der gibt so leicht nicht auf. Der hält Fairness für möglich und Ausgleich und sogar ab und zu Verzicht. Der glaubt, dass Einsicht in Ungerechtigkeit möglich ist und dass daraus etwas folgen kann.

 

Der sagt sich: „Selig sind die Einfältigen. Sie werden zwar nicht das grosse Geld machen, sie ernten keine Steuerpauschalen, besitzen keine Briefkastenfirmen, kriegen keine millionenfachen Abfindungen und allerlei Privilegien und Pauschalen, aber sie werden, ja was werden sie?

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2005 / Essay