Reformstau

 

Was ein Stau ist, braucht man niemandem zu erklären. Dass er ärgerlich ist, man damit Zeit verliert und Geduld und manchmal den Verstand, ebenso wenig. Dass sich aber nicht nur Autos stauen, sondern auch Reformen, war mir bisher neu. Das Wort macht zwar keinen Sinn, aber es geht ja nicht um Sinn, sondern um Tempo. Und das wird behindert, durch Reformunwilligkeit. Nicht die Reformen stauen sich, sondern eine Unmenge von Dingen, die reformiert werden müssten und die sich in der Warteschlaufe befinden. Wir stecken in einem Reformbedarfsstau. Und der macht einige nervös, aggressiv und übellaunig. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel, sagen sie uns. Wir rutschten unaufhaltsam nach hinten und unten in allen möglichen Ranglisten, in denen wir bisher als Musterland galten. Schuld daran ist das Schweizer Abstimmungsvolk, das manchmal zu dumm ist, um zu tun, was man ihm sagt. Was ihm die Zukunftsgestalter und Zukunftserhalter sagen, Leute mit Weitblick, die das grosse Ganze sehen. Die wissen, was wir nicht wissen: wie das alles funktioniert in der Welt, vor allem mit der Wirtschaft und dem Geld. Und in einigem haben sie sicher auch recht. Wir verstehen nicht viel davon, sind kaum ExpertInnen in Sachen Globalisierung, technologischer Entwicklung, Marktlogik, Geldpolitik und Wachstumsprognosen. Die Mehrheit von uns ist an relativ komfortable Lebensbedingungen gewöhnt und will, dass das exakt so bleibt. Ohne Wenn und Aber. Vor allem, wenn die Wenn- und Abersager die Absahner sind, die immer den Rahm bekommen, auch wenn es keinen mehr gibt. Misstrauisch hütet man da den eignen Topf, zu Unrecht nicht, nicht in jedem Fall, aber in manchem. Den eigenen Vorteil sichern, das versuchen alle. Man nennt es normal. Der Mensch aber, hat einmal ein kluger Mann gesagt, beginnt dort, wo sei eigener Vorteil aufhört.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2004 / Essay