Haltungsschäden

 

Ich lerne täglich etwas. Das ist an sich erfreulich. Lernen schafft Bewegung und erhält Kopf und Herz die notwendige Elastizität. Ich lerne durchaus nützliche Dinge. Über die Welt und über die Menschen. Ich erfahre interessante Details über Walfische, die Mongolei, Hochhausbau in Taiwan, die DNS, arabische Literatur, Querelen im Bundesrat und Lebensentwürfe ins Ungewisse hinein. Ich reise durch Welten und Geschichte(n), mein Wissen erzielt phantastische Wachstumsraten. Nur mit dem Verstehen will es nicht so recht klappen. Immer häufiger sitzt es daneben und schüttelt den Kopf.

 

Das ist sein gutes Recht. Ich lerne ja nicht bloss Dinge, die mir Welten erschliessen und Horizonte eröffnen. Ich lerne auch ganz einfältige Dinge, die fügen sich reibungslos in die tägliche Litanei: wie kläglich, wie zynisch, wie dumm!

 

Ich bewundere meine Neugier, die aus all dem Schaden nicht klug wird und weiterhin auf die Jagd nach Informationen geht, um Einsichten zu Tage zu fördern. Nur manchmal wünschte ich mir, sie wäre wählerischer und verschonte mich mit all dem Unsinn, der sich so nachhaltig im Gedächtnis festsetzt und sich immer wieder in den Vordergrund spielt. Ein kleines, an sich unerhebliches Beispiel: „Experte: ‚David’ hat eine ganz schlechte Haltung.“ David ist Michelangelos David und der Experte ist ein englischer Fitnesstrainer. David belaste zu sehr seine rechte Hüfte und strecke sein Becken zu weit nach vorn. Langfristig würde David bei derart falscher Belastung an Haltungsschäden leiden. Armer David, selbst marmorne Gestalt schützt vor Gesundheitspflichten nicht. Und wir, wir vergessen angesichts des hervorgestreckten Beckens unsere erotischen Phantasien und denken jetzt an Rückenschmerzen. Es gibt natürlich schlimmere Beispiele. Sie belasten nicht die Hüften, aber nachhaltig die Welt. Und unsereins, die wir uns einen Reim auf alles zu machen suchen. Immer öfters kommen wir zum Schluss, dass wir nicht Einsichten gewinnen, sondern Dummheit meditieren.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2004 / Essay