Friedhof

 

Der Friedhof am Rande meiner Stadt hat Mauern und Gitter. Am Abend schliesst man ihn ab. Die Lebenden müssen gehen, die Toten müssen bleiben. Die Grenzen werden Abend für Abend geklärt. Am Tag verschwimmen sie.

 

Der Friedhof am Rande meiner Stadt heisst Friedental. Er liegt unterhalb des Krankenhauses. Aus einem Teil seiner Fenster sieht man direkt auf die Gräber. Man weiss jederzeit, dass es verschiedene Ausgänge gibt. Und auch, dass der eine, der letzte, etwas wie Frieden verspricht. Das Wort selbst, der „Friedhof“, meinte zwar ursprünglich „eingehegter Raum“, das Wort Friede aber trägt die Bedeutung „hegen, schonen“ und passt also doch. „Mögen sie in Frieden ruhen“, wünschen wir den Toten und dass die Ruhe eine ewige ist, glauben inzwischen viele. Verschwunden das Fegefeuer, aus dem sich die Toten melden, damit wir ihre Qualen lindern, keine armen Seelen mehr, die unserer Fürbitte bedürfen. Unter der Erde liegen sie, die Toten, sorgsam eingehegt und mit einem Stein beschwert.

 

Fern die Zeiten, in denen die Toten der Nähe zum Altar, zum Heiligen, bedurften, da man auf den Friedhöfen vor den Kirchen Gericht hielt, den Menschen Asyl bot, man hierorts Marktstände aufbaute, Feste feierte, sang, tanzte und Gastmähler abhielt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden die Friedhöfe nach und nach vom Staat übernommen, von den Kirchen getrennt und, aus Gründen der Hygiene und des Platzes, an die Ränder der Städte verlegt. Nicht nur Räume, auch Welten werden so entflochten. Die Toten werden aus dem Diesseits verdrängt, der Friedhof wird zum Erinnerungsraum – nicht mehr dem Tod, sondern der Toten wird hier gedacht.

 

Die Rituale rund um Sterben, Tod und Beerdigung sind karger geworden, keine barocke Üppigkeit mehr, kaum Theatralik, ab und zu eine individuelle Choreographie des Abschiedes, oft ein aufs Wesentliche reduziertes In-die-Erde-Betten. Trauern wird intimer, privater, manche mögen es nicht mehr mit anderen teilen. Sie sehen von öffentlichen Bekanntmachungen ab, der engste Familienkreis genügt, der Radius verengt sich, am Schluss steht das Gemeinschaftsgrab.

 

Im Tod sind alle Menschen gleich. Was übrig bleibt, ist wenig und macht keine Unterschiede mehr. Nur wir machen sie. Mit Inschriften und Bildern und Photos und Spielzeug und den Utensilien von Berufen und Hobbys; mit räumlichen Hierarchien von Reichen und Berühmten und gewöhnlichen Leuten mit gewöhnlichen Leben. Wer etwas auf sich hält, nimmt auch im Tod ausreichend Platz, ziert seinen Raum mit teurer Kunst. Oder tut grossmütig und durchdacht das Gegenteil – macht sich in einer Urne klein und verzichtet auf Stolz, lässt sich gar in alle Winde und Flüsse und Berge und Wälder zerstreuen. Abgeschüttelt zu guter letzt das Gewicht eines individuellen Lebens. Was im Leben kränkt, wird im Tod generös vollzogen: die Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit.

 

Die Friedhöfe aber sind fürs Erinnern gedacht. Das Erinnern hält die Toten am Leben und der Raum die Erinnerung wach. Einen Friedhof besuchen heisst, die Erinnerung suchen, sie nicht dem zufälligen Auftauchen überlassen. Verlangsamt scheint alles, die Schritte bedächtiger, zu rennen traute man hier nicht. Die Geräusche des Kieses, die Vögel, das entfernte Rauschen des Verkehrs, begleiten die seltsame Ruhe, die hier herrscht. Beinahe zu schön alles. Geordneter Tod, blühendes Verdämmern. Nirgends Wut, nicht auf den Tod, nicht auf die Toten. Etwas Mildes, Gedämpftes überzieht alles. Vom Trauern wird Würde verlangt.

 

Würde heisst: sich schicken. Nur die Satanisten wüten hier und werfen Grabsteine um. Die Trauernden benehmen sich. Noch nie hat sich vor meinen Augen jemand in Tränen aufgelöst, auf ein Grab geworfen, mit Fäusten auf die Erde getrommelt, auf dass sie endlich herauskämen, die einen verliessen – dass sie sich rührten, antworteten, dass irgend etwas geschähe. In der Friedhofsruhe sind die Toten still, und in den Lebenden ist das Leben verhalten.

 

Der Friedhof ist manchmal der uneingestandene Wunsch, die Toten möchten sich an die Regeln halten und uns nicht schutzlos überfallen, mitten in einem Film, in einer Zeitungsnotiz, einem Buch, dort, wo wir sie nicht erwarten, gepanzert oder eingehüllt in die gemeinsame Geschichte, die wir um uns schlagen, wie einen Mantel. Mitten im Leben wollen wir nicht vom Tod umgeben sein, und auch nicht von den Toten. Ich nicht, die meisten nicht. Lieber gehen wir auf Friedhöfe, tragen den Schmerz von uns weg, immer und immer wieder, wie ein zugelaufenes Tier, weit weg, auf dass er irgendwann dort bliebe. An dem Ort, der Frieden verspricht, den Toten und  irgendwann auch uns.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2004 / Essay