Max Rüedi und wie er die Welt sieht

 

Die Welt sehen heisst die Welt konstruieren. Sehen ist immer Ordnen, verändern, bearbeiten. Manchmal ist, was man sieht, schief, es hält nicht und fällt zusammen.

 

Das ist die Freiheit der Betrachterin. Und trifft sich mit den Figuren aus Max Rüedis Welt, die Eindeutigkeit nicht zulassen – zu rätselhaft sind sie, skurril, befremdend, manchmal hingeworfen wie ein unheimlicher Traum, einen, bei dem man schwitzend und mit Herzklopfen erwacht.

 

Wenn Max Rüedi die Welt sieht, sieht er in der Regel Menschen. Sie stehen im Zentrum, auch wenn darin Tiere vorkommen, Gegenstände und die eine oder andere symbolische Beigabe. Max Rüedis Welt ist fixiert auf den Menschen, obsessiv an den Menschen gebunden, nicht an konkrete Menschen, sondern an den Menschen in der „an-sich“-Dimension, der Dimension jenseits konkreter, geschichtlich festzumachender Biografien. Die Menschen von Max Rüedi sind zwar auf der Erde zu Hause, aber sie sind es irgendwo und nirgends; sie leben unter freiem Himmel, ihre Welt ist eine offene Bühne mit äusserst kargem Bühnenbild, praktisch nackt, aufs Wesentliche reduziert, wie die Menschen, die sich in ihr bewegen und ihr Zentrum sind. Wenn es Bäume gibt und Pflanzen, dann sind es häufig Menschen, die sich dergestalt pflanzlich entfalten. Jedoch nicht immer, weil immer in der Regel nie stimmt, auch auf Max Rüedis Bildern nicht, die selten ohne Brüche und Widerworte und Verneinungen und Durchkreuzungen des Erwarteten auskommen.

 

Nichts von dem, worin sich Tag für Tag unser aller Leben abspielt, wird auf diesen Bildern sichtbar, nur das, was in diesem riesigen Niemandsland des Zwischen-Raumes geschieht: dem Raum zwischen Fischvergangenheit und Paradiesträumen mit blühenden Bäumen und drei Gesichtern, hin und her gezerrrt zwischen halbgezähmt-wölfischem und rosaroter Romantik, den Kopf in die warmen Farben der Träume gehüllt. Was Max Rüedi uns zeigt ist aber auch immer und immer wieder der Raum zwischen den Frauen und den Männern, der Raum, wo die Gedanken hingehen, die Worte, die Blicke, die Gesten, die Berührungen und wo sie warten, auf der andern Seite abgeholt zu werden. Das gelingt nicht immer, gelingt oft nicht, gelingt manchmal nur zum Teil, weil auf der andern Seite nicht unbedingt das Erwartete ist, sondern etwas anderes eben.

 

Die andere Seite, das sind jedoch nicht allein Menschen, ab und zu ist es auch das, was wir Gott nennen und auf Max Rüedis Bildern für all das zu stehen scheint, was ein Auge auf uns hat, aber sich doch nicht preisgibt – eine gute Wahrheit, eine, in die man mit Feuer und Regenbogen und Himmelsleitern steigt und sich darin doch nicht versteigt.

 

Die Welt, wie sie Max Rüedi sieht, ist die Heimat derer, die aus dem Paradies vertrieben wurden: etwas ging an ihnen zu Bruch und zeigt seither Risse, die sich nicht wirklich verbergen lassen. Was wir sehen, ist die hintere Seite der Menschen, ihre Rückenansicht, der Ort, wo das «Gesamtkunstwerk Ich» misslingt. Das Misslingen aber ist nicht ohne Lachen, auch wenn es in einigen Bildern zum Weinen ist.

 

Es gibt Bilder, auf denen sind Menschen, zu denen möchte man hin kriechen und sich an ihnen wärmen. Frauen und Männer, in Umarmungen versunken, in denen die Welt stillsteht. Und doch, bei genauerem Hinsehen: auch hier ist die Welt nicht in Ordnung, unter der Oberfläche oder im Hintergrund ist immer auch etwas von dem zu sehen, was die Harmonien bricht, sie aber dennoch nicht verneint. Beides ist da: die Liebe und der Tod, das Gelingen und das Scheitern, die wärmende Nähe und der zähnefletschende Kampf, beides zur selben Zeit. Es ist keine Häme dabei, es ist nicht zynisch. Max Rüedi ist kein Besserwisser, eher ein Träumer, der weiss, dass und wo er träumt.

 

Der Mensch, der sich in Max Rüedis Welt bewegt, lebt unter einem riesigen Himmel, mit Boden unter den Füssen und doch bleibt ungenau, worauf er steht, ungenauer als das, worin die Wünsche wohnen: im Himmel mit Regenbögen, gleissenden farbigen Kugeln, mit Tauben hin und wieder oder Engeln und immer und immer wieder mit dem Auge Gottes. Seine Welt ist spartanisch eingerichtet, also nehmen wir an, das was, wir sehen sei das Wichtigste, das, was nicht fehlen darf, auch das, auf das sich das Meiste zurückführen lässt. Und so sehen wir dann: Menschen – allein unterwegs zwischen Erde und Himmel, die Arme gedehnt wie Treppen, auf denen man hinauf oder hinunter steigt, manchmal auch die Beine überlang – vor Sehnsucht danach, wohin man will, vor Sehnsucht nach etwas Ganzem, nach sich selbst, gerundet zum Schutz, aber offen vor Verlangen nach einem Himmel beispielsweise, aber auch nach dem Ich hinter den tausend Gesichtern, nach dem, was wahr ist und dahinter zu liegen scheint – ein dritter Arm ist nötig, der hilft, das Gesicht abzunehmen und zu sehen, was dahinter zu liegen scheint – und ob es das richtige ist. Das alles gelingt nur schwer, oft nur unter Verrenkungen, die Füsse im Himmel, die Fingerspitzen auf der Erde, die Hand will in die Zukunft, der Fuss jedoch rückwärts, auch das Auge schaut zurück, nur der Körper geht vorwärts, der Körper, der nicht mehr aus einem Stück ist, auseinandergezerrt und unter Hochspannung gesetzt durch gegensätzliche Richtungen, die Wünsche nehmen; das alles hat seine verquere Logik – wir kennen sie ja, sie lässt sich schlecht zu etwas Geradem biegen, mit dem man ohne Schwierigkeiten voran käme.

 

In Max Rüedis Welt gibt es ausserordentlich komische Gestalten. An Köpfen fehlt es ihnen meist nicht, auch wenn es ab und zu vorkommt, dass der eine einen Vogel hat oder der Kopf untergeht im chaotischen Wirrwarr einer Art menschlicher Ursuppe, die noch nicht geschieden ist in oben und unten, Erde und Licht, Kopf und Leib. Es gibt unangenehme Gestalten zu sehen, grau, aufgebläht, konturlos, es gibt aber auch die bloss komischen, die tanzenden Schachteln und Kugeln, fröhliche Krachmacher in einem chaotischen Panoptikum von Leben und Tod, die kuriosen Gestalten mit den aufgerollten Nasen, den Kerzen-Blumen-Vogel-Wolfs- und Affennasen, diese spassige Menge aus lauter Köpfen auf Beinen und Füssen, die scheinbar an der Nase herumgeführt werden, was natürlich für etwas anderes steht, bloss für was? Keine Ahnung, woher die kommen, was sie wollen, alles mögliche liesse sich vorstellen und manchmal wünschte man sich, es wüchse einem im Gesicht auch eine solche Kerze, um zu sehen was vor der eigenen Nase liegt, eine Kerze, die über die Nasenspitze hinaus leuchtete.

 

Dieser Mensch, das ist natürlich immer auch das Paar, seit Adam und Eva ein Mann und eine Frau. Die Paare sind sich in der Regel nahe, oft Aug in Auge, aber sie finden nur schwer zu einander. Es gibt einen Raum zwischen ihnen, der ist nur durch einen Sprung überbrückbar – wir nennen es Kommunikation. Es ist Arbeit und nicht immer ein Vergnügen, es gelingt oft nicht oder nur knapp. Es ist ein Sprung in die Vielfalt der Missverständnisse, weil die Mittel, die wir nutzen, nicht die selben sind. Wo der eine nur ein Auge hat, hat die andere bloss einen Mund, wo der eine sich mit dem Werkzeug Zahl, Tabelle und linearem Raster der Welt nähert, gebraucht die andere den Kreis, die Spirale und die Schlangenlinie. Die Frau und der Mann sind vielleicht zusammengewachsen, haben tausend Füsse gemeinsam, aber sie gehen in entgegen gesetze Richtungen; sie stehen sich gegenüber, sind zwei, ihre Nasen berühren sich fast, aber sie haben zusammen nur zwei Füsse, die wenigstens gehen in die selbe Richtung. Sie beugen sich übereinander, sind wie Wasser, in Bewegung, und wenn es ein Kuss werden soll, was sie vorhaben, dann trifft er nicht richtig, obwohl die Berührung in Reichweite liegt – aber vielleicht gelingt sie auch, nur sicher ist es nicht.

 

In Max Rüedis FrauenMännerwelt geht es um Verschiedenheit, die es schwer hat und nur in guten Momenten sich zu verbinden weiss zu einer neuen gemeinsamen Figur. Aber die Verbindungen heben die Verschiedenheit nicht auf, besänftigen sie nur, lullen sie ein, lassen sie für Momente zu etwas Neuem werden. Es kommt vor, da werden zwei zu einem, zu Spiegelbildern des einen Menschen, aber als zwei mit eigenen Köpfen, eigenen Gedanken, eigenen Träumen, mit eigenen Wunden und eigenen Erlösungswünschen. Manchmal aber ist auch keine Trennung da, manchmal sind Mann und Frau einfach zwei Seiten des einen. Natürlich ist da auch Schmerz, die Wunden sind sichtbar, aber sichtbar ist nicht Verlorenheit, das Auge wacht über die Frau und den Mann, die schlafen, träumen, sich selbst sehen, bei sich sind und doch zieht die Taube sie fort, hält den Schmerz in der Balance. Sie ist stärker, sie kann fliegen und die Menschen mit ihr.

 

Es gäbe noch viele Verbindungen zu nennen: die Menschen zwischen Fisch und Vogel, an Nabelschnüren hängend, Menschen, halb Wolf, halb Mensch, halb Ungeheuer, halb Engel – die zwei Seiten aus denen die Welt gemacht, aus denen sie zusammengemischt und geknetet ist und man kann sie nicht trennen, es funktioniert nicht. Der Mensch ist nicht vom Wolf zu trennen, der Engel nicht vom Teufel, denn «Engel zieht es zu allem Bösen und allem Leid auf der Welt. Sie schauen kleinen Kindern beim Sterben zu, das tun sie. Sie schlucken allen Schmerz und schreien ihn hinaus. Engel leben mit dem Bösen und mit dem Tod. Da, wo Mörder und Diebe sind, da findet man auch Engel.» (Walter Mosley)

 

Es bleibt unentschieden, was ein Mensch ist und wohin es ihn zieht. Aber er ist in einem Kosmos zu Hause, dem er nicht gleichgültig ist, in dem ein Auge über ihn wacht.

 

Die Welt, wie sie Max Rüedi sieht, ist christlich kartografiert – es gibt das Kind, das Kreuz, die Taube, die Himmelsleiter, das göttliche Feuer, den Regenbogen, das Kreuz als Lebensbaum, den Tod, gerade er, immer und immer wieder, dieses: Von der Erde seid ihr genommen, zur Erde kehrt ihr zurück – aber dazwischen grünt ihr und der Tod ist nicht immer der Schnitter, sondern einfach einer unter euch.

 

Max Rüedis Bilder sind einfach, auf den ersten Blick. Nichts, was man nicht verstünde. Viele sind einfach wie Skizzen, karg wie Cartoons, kurz wie vielleicht ein Witz, Kinderzeichnungen. Aber ein Kind ist er nicht. «Sprich nur dich selbst aus, wird schon Rätsel sein» heisst es in Goethes Faust und die Bibel ergänzt: «Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.» Jetzt ist aber Jetzt und nicht dann und das Rätsel bleibt bestehen und die Bilder von Max Rüedi mögen einfach sein, aber zu behaupten, „einfach“ sei einfach, wäre vermessen. Einfachheit ist so gar nichts Einfaches, zum Zeigen nicht und zum Sehen nicht, das Reduzierte verlangt, das man auf den ersten Blick erkennt, weil nichts hilft, keine Zugabe, kein Schnörkel, keine Varianten, keine Querverweise. Was gezeigt werden will ist da, klar, mit ein paar Strichen – wer Augen hat zu sehen, der und die sehe. Hilfsmittel gibt es keine, bloss die eigene Fantasie.

 

Ich stelle mit vor, Max Rüedi hat ein liebevoll-distanziertes Verhältnis zu Menschen, ein etwas trauriges Lächeln für die viel zu grossen Füsse, mit denen wir im Leben herumstolpern. Das Misslingen und die Missverständnisse zwischen den Menschen sind in seinen Bildern jedoch kaum tödlich, nur komisch. «Es gibt nichts Komischeres als das Unglück», heisst es bei Beckett. Menschen versagen eher, als dass sie böse sind. Träumen sich rosa und hellblau und bleiben grau. Strecken ihre ellenlangen Arme aus nach dem Paradies und wenn sie dieses nicht erreichen, dann wenigstens ihren Nächsten, sich selbst in ihrer Gier nach Nähe verfangend, auch diese Bilder gibt es.

 

Manchmal, bei einigen Zeichnungen, wartet man nur darauf, das sich die Figuren in Bewegung setzen, man sieht sie taumeln und tanzen und stolpern und kippen und fliegen. Einige Bilder haben etwas von Trickfilmen, verlangen nach Bewegung, lassen Bewegung sehen. Sie scheinen hastig auf die Fläche gesetzt und werden lebendig. Wenn man keine Bewegung zeigen kann, dann kann man kein Leben zeigen, meinte der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz in seinen Ausführungen über Malerei. Und: dass der Pinsel ein unbeholfenes Instrument sei und mit ihm zu malen dasselbe, als wolle man den Kosmos mit einer Zahnbürste angehen. «Die Malerei ist ein einziger grosser Verzicht auf das, was man nicht malen kann», heisst es da weiter. Und die Menschen, könnte man hinzufügen, ein einziger grosser Verzicht auf das, was sie nicht sind: heil, bruchlos und wunschlos glücklich. Aber sie behalten die Köpfe in den Wolken, lehnen ihre Leitern in die Himmel, umarmen sich, missverstehen sich gründlich, sind grau manchmal und kopflos und feurig-lebendig, und bei alledem, so scheint es, ist in der Welt, wie Max Rüedi sie sieht, das Leben nicht leicht, aber es übt sich.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

Leicht gekürzte Fassung der Vernissage-Rede im Romero-Haus, 16. November 1997

 

© Silvia Strahm 1997 / Rede