Rede zum 2. August

 

Eine 2. August-Rede zu halten, das ist nicht nur lustig, auch wenn der Gedanke mich verführt hat, es sei hier der Ort, wo Spott und Häme nicht nur erlaubt, sondern sogar gefragt seien, der Ort, wo dem 1. August-Pathos Unausgewogenes, Einseitiges und respektlos Vorlautes quasi als Nachtrag und Richtigstellung beigefügt werden könne. Aber das allein genügt ja nicht. Originell möchte man auch noch sein und nicht bloss frech. Nur: wie kann man Schweizerin sein, notabene auch Schweizer und dennoch originell? Und: vielleicht eine typisch schweizerische Frage: wozu soll sie gut sein, die Originalität?

 

Weshalb sitzen Sie da, frage ich mich. Was erwarten Sie zu hören, was Sie nicht schon längst alle wissen? Über den Stand der Dinge im allgemeinen, über die Version Schweiz 1991 im besonderen. Sollen wir uns gemeinsam ansehen, was von der Schweiz übrigbleibt, wenn sie sich ihr Make-up abschminkt? Aber glauben wir denn wirklich ernsthaft an so etwas wie 'das wahre Gesicht', an das Eigentliche, an das hinter jeglicher Verstellung? Wer weiss, vielleicht sind die Lügen auch ein Teil der Wahrheit, der Wahrheit über das, was sich Schweiz nennt. Wenn wir von Individuen sprechen, dann ist uns der Begriff Lebenslüge vertraut, jene Lüge also, die es uns einigermassen ermöglicht, mit der Kluft zwischen dem, was wir zu sein wünschen und dem, was wir sind, so fertigzuwerden, dass wir Schuld oder Versagen aus unserem Selbstbild ausklammern können. Vielleicht müssten wir analog von Staatslügen sprechen als Ausdruck jener verdrängten oder nichteingestandenen Diskrepanz zwischen den Werten und Idealen, nach denen handeln zu wollen ein Staat vorgibt, und den Handlungsmaximen, die dann tatsächlich bestimmend sind. Zu fragen wäre also, was denn aus der Schweiz wird, wenn man ihr ihre Lügen nimmt? Dann aber auch, was aus uns wird, ohne diese Lügen. Nicht bloss die andern nähren sich von Mythen, Halbwahrheiten und kleinen Schummeleien. Alle, die wir in diesem Land leben, kommen um gewisse Arrangements mit der Wahrheit nicht herum. Nicht nur die Grossmeister des Kapitals, die Mächtigen, wie wir sie gerne vereinfachend nennen, nein auch wir, die wir uns für kritisch und wahrheitsfähig halten, Leute also, die sich der Vorstellung verpflichtet fühlen, die Wahrheit decke sich nicht unbedingt mit dem Interesse, sie in ganz bestimmter Weise anzutreffen, wenn möglich im Gewand der Bejahung bisheriger Welt- und Selbstdeutungen. Für wie ideologie-resistent halten Sie sich? An sich und in bezug auf die Schweiz? Was hat Sie als letztes in anhaltendes Erstaunen zu versetzen vermocht?

 

Ich beispielsweise halte mich für relativ abgebrüht, erwachsen eben. So leicht erstaunt mich nichts mehr. So weiss ich denn nicht, weshalb es in der Schweiz keine Korruption geben soll, kein Spitzelsystem, keine miesen Geschäfte, keine brutalen Polizeieinsätze, keinen Fremdenhass, keine Verteidigung von Interessen und Privilegien mit fast allen Mitteln. Ich weiss nicht, wann irgendwo auf diesem Planeten – einzelne ausgenommen – die Moral je vor dem Fressen kam, aber ich weiss, dass wer weiterhin in aller Ruhe fressen will, gewisse Hilfen braucht, ein paar illegale manchmal, aber auch die ganz legalen, die sich vor unseren Augen abspielen: ein bisschen Polizei hier, ein paar Soldaten dort. Und wer es trotzdem wagen sollte, seine/ihre Finger ohne ausreichenden Grund in unsere zurzeit noch vollen Töpfe stecken zu wollen, bezahlt diese Anmassung in Zukunft aus der eigenen Tasche, genauer: aus Abzügen der hier in der Schweiz geleisteten Arbeit. Wussten Sie, dass die Juden und Jüdinnen Europas ihre Vernichtung selbst finanzierten? Die Eisenbahnfahrten, die langen, beispielsweise? Sicher, Ausschaffung ist nicht Vernichtung, nicht unbedingt, aber es gehört ein gerüttelt Mass an Zynismus dazu, Asylsuchende ihre eigene Ausschaffung bezahlen zu lassen.

 

Die Moral ist aus Gummi, hat einmal ein kluger Mann bemerkt, sei es immer gewesen, weil sie sich leichter anpasse als alles andere. Der Begriff humanitäre Ausschaffung ist da nur ein Beispiel des Versuches, den eigenen Interessen zu folgen und gleichzeitig vorzugeben, man könne dies auch tun, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Wir alle möchten doch so gerne ein gutes Leben haben und dennoch gute Menschen sein. Das ist verständlich, und wir alle verstehen es nur zu gut. Nur: so reich, wie wir sind und zu bleiben gedenken, gelangen wir nicht durch's Nadelöhr ins himmlische Reich der Lauterkeit und Integrität. Da verrät uns schon das 'gemästete Kreuz' (Dürrenmatt), das wir so stolz auf unserem Wappen tragen.

 

Aber es scheint, dass all unser Wissen um die Verstricktheit in Unrecht und Lüge viele von uns kaum daran hindert, immer und immer wieder dem Kinderglauben zu erliegen, einmal werde die Welt vollkommen sein. Und: um vollkommen zu werden, müsste sie ein bisschen mehr wie die Schweiz sein. Ist das arrogant, naiv oder einfach nur selbstgefällig? Typisch schweizerisch eben?

 

Ein bisschen Diva, ein bisschen Musterschülerin, unsere Helvetia. Ordentlich, tüchtig und pflichtbewusst, wohlhabend, aber nicht protzig, möchte nicht auffallen, aber auch nicht übersehen werden, eher kühl als leidenschaftlich, stur, wo es um die Sicherung eigener Vorteile geht, nicht besonders beliebt, aber dennoch geschätzt. Alles in allem recht erfolgreich, aber langweilig. «Es ist schön, als Schweizer geboren zu sein. Es ist schön, als Schweizer zu sterben, aber was macht man in der Zwischenzeit?» so in etwa hat Dürrenmatt einmal die Schweiz, seine Schweiz, beschrieben. Langweilen Sie sich auch in diesem Land? Gehören Sie zu jenen, die glauben, dass das Leben, das wirkliche Leben, anderswo sei? Draussen, dort wo die eigentlichen Dramen, die wirklich weltbewegenden Ereignisse stattfinden? Glauben Sie an ein Drinnen und an ein Draussen? Und dass die typisch schweizerische Einteilung in ein In- und Ausland ernstlich mehr ist als der langsam verblassende Glanz des Mythos von Unabhängigkeit und Souveränität? Wir wissen doch inzwischen alle, dass 'das Kapital und seine bestimmenden Multis' (SP-Manifest für ein soziales Europa), längst international organisiert sind und dass weit weniger politische Entscheidungen unser aller Leben bestimmen als vielmehr die Gesetze der Oekonomie. Und dass es neue Länder gibt, Nestle zum Beispiel, und dass diese Länder keinen Patriotismus kennen, sondern, gleichsam nomadisierend, ihre Zelte dort aufschlagen, wo es am meisten zu holen gibt.

 

In einer Demokratie nennt man das Volk 'den Souverän'. Und gewiss ist dies eine der erfreulicheren Ideen, auf die die Menschen je gekommen sind. Nur, was macht man mit einem Souverän, der nicht souverän ist, nicht wirklich überlegen? Der Ehrlichkeit halber sei aber auch gefragt: Halten Sie sich für souverän, oder bescheidener: für 'souveränitätsfähig'? Haben Sie einen fundierten Standpunkt bezüglich des europäischen Integrationsprozesses? Nähren Sie gesellschaftspolitische Utopien oder Vorstellungen praktikabler Verteilungsgerechtigkeit? Stellen Sie landwirtschaftspolitische Überlegungen an? Sehen Sie konkrete Lösungen im asylpolitischen Bereich? Wie sähe Ihrer Meinung nach eine neue Weltwirtschaftsordnung aus? Haben Sie irgendwelche präzisen politischen oder ökonomischen Theorien, einen festen Standpunkt oder wenigstens formulierbare Ideen, wie es weitergehen könnte mit uns allen, nicht nur in der Schweiz?

 

Nun gehört ja zum festen Bestandteil der Demokratie nicht bloss die Tatsache, dass dem Volk die Macht zusteht, sondern auch, dass überhaupt ein Volk da ist, das Macht in Anspruch nimmt. Aber die Frage ist inzwischen: wo ist denn eigentlich dieses Volk? Und: «Was ist das für ein Volk? Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde»? Dieser Satz stammt übrigens von Franz Kafka. Er gefällt mir. Vor allem nach Abstimmungswochenenden, vor allem, wenn die anderen das Volk sind. Ab und zu tut es gut, undifferenziert zu sein, unfair und überheblich. Pöbel zu sagen und Mob und dummes Pack. Auch und gerade, wenn es einem selbst grosse Mühe bereitet, bei aller Komplexität noch des allerkleinsten Problems einen Standpunkt zu finden. Denken kann ja sehr unangenehm sein, und wie wir alle wissen, sehr, sehr zeitraubend. Verständlich, dass man sich solche Umwege gerne erspart. Trotzdem: Was geschieht mit einer Demokratie, wenn ein Volk einfach nicht gerne denkt oder in vielen Fällen nur so weit, als sich keine unangenehmen Folgen für einen selbst daraus ergeben? Die Macht des Volkes sei nichts wert ohne Aufklärung, schreibt Peter Bichsel. Fraglich eben nur, ob es uns wirklich an Aufklärung mangelt (aufgrund der Auflagezahlen des Blicks beispielsweise spricht vieles dafür), oder nicht doch eher am Wunsch, es möge uns tatsächlich ein Licht aufgehen über uns, über unsere Zukunft, über den Zustand der Welt. Was wir wissen müssen, können wir wissen, wissen es wahrscheinlich auch, was offensichtlich nichts ändert, noch kaum je etwas geändert hat.

 

«Ach», sagte die Maus in der kleinen Fabel von Franz Kafka, «die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.» – «Du musst nur die Laufrichtung ändern», sagte die Katze und frass sie.

 

Wie würden Sie dies nennen, diese Hellsicht, gepaart mit dem Unvermögen, sie wirklich ernst zu nehmen? Welchen Namen geben wir dieser Krankheit zum Tode? Es sei so, als produziere der Verstand seine eigenen Argumente gegen die Realität, gegen sich selbst, gegen das, was er wisse, schreibt Julian Barnes in seiner 'Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln'. Verdrängung als notwendige Schattenseite der Zivilisation. Wir können es auch Lügen nennen. Was wäre unser Leben ohne all die Ausreden, die wir täglich neu erfinden, um die Falle nicht zu sehen, in die wir laufen? Wurde wohl je ein Untergang so akribisch genau analysiert und wissenschaftlich begleitet? Aber Untergang darf man ja nicht sagen, weil das Panikmacherei ist und Übertreibung. Vielleicht Krise. Ja, Krise wäre angemessener und weniger handlungshemmend, und überhaupt ist es hier in der Schweiz alles in allem nicht so schlimm. Wie ich uns kenne, ist bei uns sogar der Dreck weniger dreckig, das Gift weniger giftig, die Gefahr weniger gefährlich. Alles eben eine Nuance weniger als anderswo. Es sei denn, wir sprächen nicht von Problemen, sondern von Lösungen. Da ist das Eigene noch immer das Beste gewesen, und da lassen wir uns nur sehr ungern und eigentlich nur unter Zwang auf andere Versuche ein. Wenn die Schweiz doch nur eine Insel sein dürfte, ein kleiner Musterbetrieb inmitten Europas, unbehelligt von Erfolgsdruck und Konkurrenzsorgen, eingebettet in die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Nachbarn: Wie gerne sähen wir uns klein, aber fein. Klein, das sind wir zwar, geographisch, immer mehr wirtschaftlich, kulturell in jedem Fall. Ein bisschen mittelmässig in allem, manchmal fast schon ergreifend dilettantisch; kaum etwas, das hier im grossen Stil geschähe, weder Gutes noch Böses. Klein sind wir gewiss, aber fein sind wir nicht. Wir wahren zwar den äusseren Schein, wenn auch das nur zum Schein. Das klingt nicht nur böse, es ist auch so gemeint. Trotzdem: ich lebe gerne in diesem Land, und zu behaupten, dass ich zu jenen gehöre, die durch die Privilegien, die wir hier geniessen, nicht korrumpierbar sei, wäre unehrlich. Blind braucht man dennoch nicht zu werden, auch gleichgültig nicht. «Wahrhaben, was ist – wahrmachen, was sein soll» (Christa Wolf), das könnte ein Lebensprogramm sein. Und auch wenn wir kaum etwas ausrichten, wenn wir unsere politische Stimme von Abstimmung zu Abstimmung in einer Urne zu Grabe tragen, wenn wir immer zu wenige sind, wenn uns alles zu langsam geht, wenn wir an Kraft abnehmen – in der Empörung, der Wut und auch der Hoffnung, dann bleibt uns trotzdem nichts anderes übrig, als weiterzufahren, das als richtig Erkannte auch zu tun, als weiterzufahren herauszufinden, was das Richtige ist. Allen Verführungen zum Trotz nicht anfangen zu glauben, dass das Fundament aller Tugend der Nutzen ist (Spinoza) und alles andere Romantik. Die grossen Worte nicht aufgeben: Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Auch die leisen nicht: Achtung, Sorgfalt, Sensibilität. Den Mund voll nehmen damit, immer und immer wieder, um uns nicht abzufinden mit ihrem Gegenteil, das immer augenfälliger sein wird. Weltveränderndes für möglich halten, auch im Guten. Es übersetzen lernen in einzelne Ideen, in Handlungsschritte, das vor allem.

 

Auch wenn inmitten allgemeiner Plausibilitäten und faktischen Handlungsmöglichkeiten nur lächerlich kleine Räume bleiben, dennoch an Akten der Selbstbehauptung festhalten, nicht in der Hoffnung, die Welt zu retten, aber die eigene Würde. Oder um es mit Hilde Domin zu sagen:

 

«Dies ist unsere Freiheit

die richtigen Namen nennend

furchtlos

mit der kleinen Stimme

...

das Verschlingende beim Namen nennen

mit nichts als unserem Atem

 

Salva nos ex ore leonis

den Rachen offen halten

in dem zu wohnen

nicht unsere Wahl ist.»

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1991 / Vortrag 02.08.1991 RomeroHaus Luzern