Liebe erfolgreiche, ein bisschen verrückte Frauen

 

Sie sind erfolgreich – sie haben ihren Kurs beendet, sie sind jetzt informiert, auf dem neusten Stand, voller Einblicke und neuer Ausblicke.

 

Sie sind verrückt, zumindest ein bisschen verrückt, denn sie beschäftigen sich in weitestem Sinne mit etwas, so die gängige Meinung, mit etwas, das tot ist, mit etwas, das es nicht mehr gibt, einem Phantom also und sie beschäftigen sich gleichzeitig mit etwas, das überaus aktiv ist, aggressiv, das viel zu weit geht, das seine Grenzen nicht kennt, das zerstörerisch ist. Sie tun gleichzeitig beides, sie müssen also verrückt sein.

 

Ich rede hier gar nicht einmal von Ihrem Spezialgebiet – der Feministischen Theologie. Die kennt die sogenannte gängige Meinung nämlich gar nicht. Darüber geht die gängige Meinung schlicht hinweg.

 

Also lassen sie uns beim Feminismus bleiben, sozusagen der grossen Schwester der feministischen Theologie bleiben.

 

Es ist ja nicht so, dass der Feminismus kein Thema mehr wäre. Obwohl er als tot erklärt wird. Denn er hat ja weiträumig sichtbare Spuren der Zerstörung hinterlassen. Die werden immer und immer wieder nachgezeichnet und beklagt: Er hat die traditionellen Familien kaputt gemacht, die Frauen in krankmachende Doppel- und Dreifachbelastungen getrieben, die Männer verunsichert, die Buben in ihrem Selbstbild grundlegend geschädigt; er treibt die jungen Männer an den rechten Rand des politischen Spektrums. Er hat, das neueste Thema, die Gewaltbereitschaft bei jungen Mädchen geschürt. Die sind jetzt genauso so brutal wie Buben, wegen dem Feminismus. Auch die Befreiung der Sexualität geht auf sein Konto und die darauf folgende Übersexualisierung der Kultur, die jetzt unter dem Stichwort «Living dolls» das Ideal der Frauen als Mädchenpuppen propagiert.

 

Interessanterweise ist der Feminismus ganz und gar nicht schädlich, sondern sogar erforderlich, wenn er gegen Muslime ins Feld geführt wird oder von aggressiven fundamentalistischen Frauen für sich reklamiert wird. Grizzly-Feminismus nennt man das in den USA. Ikone ist die «Pitbull mit Lippenstift» genannte Bärenmutter Sarah Palin, mit der Waffe in der Hand und ihrer zynischen Kriegsrhetorik, die chic und sexy ihre privilegierte Welt für ihre Kinder zu verteidigen gedenkt, gegen den Sozialismus von Präsident Obama.

 

Was für eine verrückte Welt ist das, in der eine SVP gemeinsam mit Alice Schwarzer die Freiheit der Frauen verteidigt?

 

Trotzdem hat es der Feminismus hier wie überall schwer. Sein Imageproblem ist nach wie vor gross, obschon die meisten Frauen und Mädchen dennoch gerne von seinen Früchten essen, seine positiven Folgen für ihr Leben nicht missen möchten. Aber dem Feminismus fehle heutzutage der «Plot», sagen uns Wissenschaftlerinnen. Feminismus, schreibt Thea Dorn, gelte als überflüssig wie Fausthandschuhe im Sommer. Was wichtig und notwendig war, knapp formuliert: die Möglichkeit, sein Leben frei zu wählen, unabhängig von seinem Geschlecht, ist prinzipiell möglich geworden, auch wenn die nach wie vor herrschende neoliberale Umverteilungspolitik sowohl Ausgrenzung als auch Privilegierung verstärkt und die gleichen Chancen aller beeinträchtigt.

 

Nun könnten sie einwenden und ich gehe mal davon aus, dass sie das im Hinterkopf auch gemacht haben, dass hier die Begriffe aufs Gröbste vermischt wurden. Feminismus ist ja nicht zu verwechseln mit Gleichberechtigung, mit Emanzipation, auch wenn diese Ziele Teile davon waren und sind. Aber so ist die Realität. Da gibt es keine saubere Begrifflichkeit. Feminismus ist alles, was irgendwie mit Frauen zu tun hat, die sich nicht mehr in die zweite Reihe stellen, nicht mehr die Rolle im Hintergrund spielen, die auffällig sind, etwas wollen, es einfordern, Platz reklamieren, anderen auf die Füsse treten, (auch anderen Frauen notabene), Männern Privilegien streitig machen, in Konkurrenz treten etc. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

 

Sie, die sie hier sitzen, sind ein Beispiel dafür. Sie haben sich mit etwas beschäftigt und werden sich hoffentlich weiterhin damit beschäftigen, das unangenehme Fragen stellt, das einen kritischen Blick auf alles wirft, was war, ist und werden könnte, kritisch im Sinne von parteilich. Nicht mehr unbedingt parteilich für die Frauen – weil es d i e Frauen nicht gibt und nie gegeben hat – aber parteilich für ein Leben, das auf der gerechten Verteilung von Rechten, Chancen und Pflichten beruht, ein gutes Leben für alle im Blick hat und eine Welt anstrebt, an deren Gestaltung alle teilhaben. «Freiheit heisst nicht Freiraum», hatte es die italienische Intellektuelle Rossana Rossanda vor vielen Jahren genial knapp formuliert, «Freiheit heisst Partizipation». Ein Satz, den ich nie mehr vergessen habe.

 

Ich nehme einmal an, Vieles hat sich Ihnen im Verlaufe dieses Kurses aufgetan. Sie haben bislang nicht bekannte Türen geöffnet, sind in dunkle und feuchte Keller hinabgestiegen, haben vertraute Räume plötzlich mit neuen Augen gesehen; sie haben vielleicht gar darin aufgeräumt, umgestellt, einiges weggeworfen, übermalt, Neues hinzugestellt; den Himmel neu kartographiert, sich über die weissen Flecke gewundert, die ihnen nie aufgefallen sind.

 

Sie haben wahrscheinlich auch Ihre Umgebung mit neuen Perspektiven eingedeckt, sie sicher manchmal auch genervt, aber gewiss auch angeregt. Und sie werden weiterhin ihre Einsichten vervielfältigen. Das stimmt optimistisch.

 

Und es geht heute Abend ja nicht darum, Defizite aufzuzählen, feministische Programme für die Zukunft zu formulieren, sondern ihnen zu ihrer Arbeit und irgendwie ja auch zur Wahl ihres Themas zu gratulieren, mit dem sie in der Regel ja nicht auf ungeteilte Sympathie stossen und es trotzdem als für ihr Leben bedeutungsvoll angesehen haben.

 

Ich wünsche ihnen für ihre berufliche und private Zukunft, dass sie etwas von dem realisieren können, was Christa Wolf so unnachahmlich knapp formuliert hat: Mit beiden Beinen auf der Erde träumen. Im Wissen, dass das, was ich bin, ich und die Welt noch nicht gesehen haben.

 

Da steckt etwas von jenem weiblichen Grössenwahn drin, den wir in den 1970-er Jahren so begierig und gerne gehört und zitiert haben. Und der uns inspirierte, gross oder bescheiden: grösser von uns zu denken, als wir das bisher gewohnt waren.

 

Man ist ja nicht nur ein Scherbenhaufen, auch wenn man das auch ist, man ist auch eine Schatztruhe, die noch nicht geöffnet wurde, die Karte zu diesem Schatz ist meist ziemlich gut versteckt, manchmal unleserlich, nur schwer zu entziffern, voller Kürzel und Chiffren und Rätsel, aber es ist eine Schatzkarte. So zu denken, täte uns gut. Natürlich: das ist der Kopf in den Wolken. Aber der Himmel ist blau, weit, öffnet uns das Herz und die Augen.

 

Tu etwas, rät uns die amerikanische Dichterin Audre Lorde. Wenn es funktioniert, mach weiter. Wenn es nicht funktioniert, mach etwas anderes, aber tu etwas. Mit Tun meint sie, weltveränderndes Tun. Meint sie Engagement für eine gerechtere Welt. Sie sagt nicht: Lasse dich ins Stadtparlament wählen, gründe eine Zeitung, ein Frauenhaus, eine Suppenküche, besuch Gefangene, verstecke Asylsuchende; sie sagt einfach: tue etwas. Was das ist, entscheiden wir, kein irgendwie geartetes Pflichtprogramm. Aber dass wir etwas tun, ist eine Frage der Selbstachtung, und deshalb eine harte Forderung, wegen dieser Verknüpfung. Teilhaben an der Welt, weil man mit verantwortlich ist für die Welt, wie sie ist.

 

Liebe verrückte Frauen,

 

Im Normalfall sind wir normal, also eine Mischung aus grossen Wünschen, unklaren Zielen und nicht ganz angemessenem Tun. Wir durchschauen sie, die Mechanismen von Geschlechterrolle, Markt und Manipulation, von zugeflüsterten, auf die Laufstege geschickten Wünsche und unseren eigenen. In der Regel durchschauen wir sie. Nur manchmal wissen wir nicht mehr so genau, wo das Eigene ist in all dem, was wir sehen, als möglich erkennen und uns vorstellen könnten. Wir möchten etwas und das Gegenteil auch. Die Welt gestalten und das Leben geniessen. Mit Kindern leben und ungehindert vorwärtskommen. Liebe, Vertrautheit und das Abenteuer, das Helle und das Dunkle. Wir möchten etwas tun, etwas Sinnvolles, etwas, das wichtig ist, wenn möglich bleibt und unsere Handschrift trägt. Die bessere Welt, die gerechtere, für uns, für alle. Hier, überall. Wir wollen Kompetenzen, Entscheidungsmacht, Einfluss, Anerkennung, Respekt und Musse, Verspieltheit, Leichtigkeit, Leidenschaft, den Moment, Zeit für alles, das wohl tut, Geld und auch Geist. Wir tun etwas, die meisten von uns zu viel. Wir haben nie Zeit. Wir sind tüchtig, tüchtig bis zum Umfallen. Und schämen uns, weil wir zu viel jammern und doch immer zu wenig tun. Zu wenig von dem, was wir einst wollten. Wir sehen uns um und sind nicht zufrieden. Zu viele Probleme und immer weniger Lösungen. Gute Ansätze zu Neuem und zu viele Rückschritte. Einiges erreicht, einiges verloren. Tolle Frauen geworden, müde Frauen geworden, neugierige Frauen geblieben, verrückt manchmal, traurig manchmal, wütend, den Kopf an manchen Wänden blutig geschlagen, die Herzen mehr als einmal gebrochen, die Köpfe in den Himmeln, noch immer hoch erhoben, die Füsse auf der Erde, schwer oftmals, festgeschraubt, eingewachsen. Fliegen wollten wir, grosse Schritte tun, neues Land abschreiten. Und drehen uns viel zu oft nutzlos im Kreis.

 

Aber zuguterletzt gibt es auch noch das:

 

Neben aller Einsicht in das, was möglich ist und in unserer Reichweite liegt;

neben allem Wollen und Tun dessen, was gut ist oder sinnvoll oder nützt

die Neugier auf uns und das, was kommt

den Stolz auf das, was wir erreichten, trotz allem, entgegen allem

die Lust auf mehr

das Tanzen, ganz für uns alleine,

grundlose Freude, Minutenglück, Selbstvergessenheit

Das Eintauchen in Geschichten

Freundinnen, Freunde

Das Glas Wein und die endlose Debatte

Der nächste Schritt und noch einer und den Mut dazu

Und dass wir noch da sind.

Und noch immer fähig, es zu geniessen.

 

«Mit beiden Beinen auf der Erde träumen» eben.

 

Und noch ein kluger Rat zum Schluss, den ich vor Jahrzehnten las und immer in meiner Schatzkiste behielt, gerade weil er etwas formuliert, das in all unserem Tun nicht vergessen gehen darf. Die amerikanische Autorin Grace Paley hat ihn formuliert: Wahnsinnige, mein Sohn, schreibt sie, «Wahnsinnige haben vor, diesen so schön geschaffenen Planeten zu zerstören. Und man täte besser daran, dies mit jedwedem täglichen Vergnügen zu durchkreuzen.»

 

In diesem Sinne wünsche ich ihnen für ihre Zukunft befriedigendes Tun und jedwelches tägliche Vergnügen

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2011 / Rede