Was will sie eigentlich?

 

1. Die Kurzfassung

 

Ihn

Hoch hinaus

Alles

Rosarote Wolken, warmen Sand, Meeresrauschen

Liebe

das Mögliche

In Ruhe gelassen werden

Ihren Teil

Vergnügen

eine Familie, Kinder

Kinder, o Gott, nein!

Sich verkriechen

Abnehmen!

Eine Zukunft

Sichtbar sein

Einen Job

Glück

Anerkennung, Respekt

Geniessen

Schreien

Geld

Eine Schönheitsoperation

Eine andere Welt

Leidenschaft

Always, aber mit Doppelflügeln

Eine gute Figur

Laut Lachen

Tanzen

Die Welt gestalten

Enthaarte Beine, für immer

Träumen

Eine Karriere

Sagen, was gilt

Etwas anderes! Jetzt!

Das Unmögliche eben

 

2. Die Traum- und Aufwachversion

 

Was sie will? Die Frau?

 

Ganz klar: ihn!

 

Den einen! Besser: den einen und den andern auch und noch einen vielleicht, wenn es geht. Auf jeden Fall den Prinzen, den Ritter, den schimmernden Helden, den mit den stählernen Muskeln und der rauen Stimme und dem Bartschatten, dem dunklen, und dem Feuer in den Augen – und in den Händen bitte auch. Herabsteigen in unser Leben soll er. Aus den Himmeln der romantischen Fiktion. Aus den Groschenromanen, Telenovelas, Soaps und Hochglanzfrauenzeitschriften. Kommen muss er. Nicht erst am Ende aller Tage. Jetzt. Sofort. Nicht dass er uns erlösen müsste. Wovon auch! Nein. Die Praline soll er sein, die mit der zartschmelzenden Füllung, der Zuschuss eben. Das Stillen der «Brennenden Sehnsucht» und der «Feuer der Leidenschaft», die uns die Sandra Browns und Karen Robards und wie sie alle heissen mögen versprechen. Bestseller um Bestseller. Den einen, der uns verzaubert, entrückt, entflammt, damit das Meer ewig rauschen möge und der Sonnenuntergang glutrot sei und der Himmel immerzu blau.

 

Und dann möchten wir das alles bitte in unserer kleinen Dreizimmerwohnung. Das Kerzenlicht ist garantiert nicht das Problem, auch das Meeresrauschen kriegen wir hin, nur für die Rüstung und das Pferd fehlt uns der Platz. Möglicherweise, sehr wahrscheinlich sogar, fehlt uns auch die Fähigkeit, uns Illusionen zu machen. Und wir klappen das Buch zu und schalten den Fernseher aus und Rosamunde Pilcher erwischt uns letztendlich nicht, nicht an den Küsten Cornwalls und nicht auf unserem Sofa. Wir sind erwachsen. Wir sind klug. Wir wissen, worauf es ankommt. Wir sagen es immer wieder. Bis wir es glauben. Und wir glauben es. Und sind ein klein wenig enttäuscht.

 

3. Die Hochglanzfrauenversion

 

Was sie will? Die Frau?

 

Gut aussehen. Also: Abnehmen. Bis auf die Knochen. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ein Leben lang. Unsere Lebensmaxime heisst: Das Fett muss weg. Denn das Fett ist böse! Es lauert an jeder Stelle, und jede ist die falsche, überall treibt es sein teuflisches Spiel. Wölbt uns zu ungehöriger Form. Treibt uns auf Laufbänder und Hometrainer und zur ewigen und nutzlosen Diät. Schuld und Scham sind inzwischen Grössen, die sich in Kalorien messen. Sisyphus ist eine Frau, die aussehen will wie Kate Moss oder Naomi Campell. Nicht den Stein rollt sie Tag für Tag den Berg hinauf, sondern die überflüssigen Kilos. Und das sind eigentlich fast alle, die die 50-Kilo-Marke überschreiten. Hätten die Götter ein Einsehen, sie sorgten dafür, dass die Anti-Aging-Cremes, Joghurts und Pralinen etwas nützten, und all die Trainingsstunden und Schönheitsoperationen.

 

Erhörten sie doch nur unsere Gebete um das tägliche Botox, damit wir vom Leben keine Falten kriegen, und sorgten dafür, dass wir niemals schwitzen und uns die Always mit den Flügeln sauber gesaugt durch unser schmutziges Frauenleben tragen. Enthaart und zur seidigen Zartheit gecremt, aufgespritzt, abgesaugt und durchtrainiert mögen wir dereinst in unsere Särge steigen. Und dann endlich werden wir schlank sein, und wir werden haarlos sein und am ganzen Körper ohne ein einziges Gramm Fett. Für immer, in alle Ewigkeit. Und es wird wunderbar sein. Noch schöner wäre, zu wünschen wagen wir es kaum, noch schöner wäre, es gäbe dann doch noch ein Hintertürchen zu den Wonnen der Disziplinlosigkeit und der himmlische Tisch, der vielbesungene, böge sich unter seiner Last und wir schlügen uns schamlos den Bauch voll und höben in alle Ewigkeit ohne das klitzekleinste Schuldgefühl das Glas. Le chaim, Salute, santé!

 

4. Die aufgeklärte Version

 

Nein. So dumm sind wir nicht. Nie im Leben. Nur manchmal, ab und zu, ein ganz klein wenig. Im Normalfall sind wir normal, also eine Mischung aus grossen Wünschen, unklaren Zielen und nicht ganz angemessenem Tun. Wir durchschauen sie, die Mechanismen von Geschlechterrolle, Markt und Manipulation, von zugeflüsterten, auf die Laufstege geschickten Wünschen und unseren eigenen. In der Regel durchschauen wir sie. Nur manchmal wissen wir nicht mehr so genau, wo das Eigene ist in all dem, was wir sehen, als möglich erkennen und uns vorstellen könnten. Wir möchten etwas und das Gegenteil auch. Die Welt gestalten und das Leben geniessen. Mit Kindern leben und ungehindert vorwärtskommen. Liebe, Vertrautheit und das Abenteuer, das Helle und das Dunkle. Wir möchten etwas tun, etwas Sinnvolles, etwas, das wichtig ist, wenn möglich bleibt und unsere Handschrift trägt. Die bessere Welt, die gerechtere, für uns, für alle. Hier, überall. Wir wollen Kompetenzen, Entscheidungsmacht, Einfluss, Anerkennung, Respekt und Musse, Verspieltheit, Leichtigkeit, Leidenschaft, den Moment, Zeit für alles, das wohl tut, Geld und auch Geist.

 

Wir tun etwas, die meisten von uns zuviel. Wir haben nie Zeit. Wir sind tüchtig, tüchtig bis zum Umfallen. Und schämen uns, weil wir zu viel jammern und doch immer zu wenig tun. Zu wenig von dem, was wir einst wollten. Wir sehen uns um und sind nicht zufrieden. Zu viele Probleme und immer weniger Lösungen. Gute Ansätze zu Neuem und zu viele Rückschritte. Einiges erreicht, einiges verloren. Tolle Frauen geworden, müde Frauen geworden, neugierige Frauen geblieben, verrückt manchmal, traurig manchmal, wütend, den Kopf an manchen Wänden blutig geschlagen, die Herzen mehr als einmal gebrochen, die Köpfe in den Himmeln, noch immer hoch erhoben, die Füsse auf der Erde, schwer oftmals, festgeschraubt, eingewachsen. Fliegen wollten wir, grosse Schritte tun, neues Land abschreiten. Und drehen uns viel zu oft nutzlos im Kreis.

 

Aber zuguterletzt gibt es auch noch das:

 

Neben aller Einsicht in das, was möglich ist und in unserer Reichweite liegt;

neben allem Wollen und Tun dessen, was gut ist oder sinnvoll oder nützt

die Neugier auf uns und das, was kommt

den Stolz auf das, was wir erreichten, trotz allem, entgegen allem

die Lust auf mehr

das Tanzen, ganz für uns alleine,

grundlose Freude, Minutenglück, Selbstvergessenheit

Das Eintauchen in Geschichten

Freundinnen, Freunde

Das Glas Wein und die endlose Debatte

Der nächste Schritt und noch einer und den Mut dazu

Und dass wir noch da sind

Und noch immer fähig, es zu geniessen.

 

Was will sie eigentlich?

 

Die allerkürzeste Kurzversion liefert Christa Wolf:

 

«Mit beiden Beinen auf der Erde träumen.»

P.S.

–  Wenn sie noch immer auf den Prinzen warten, gehen sie lieber ins Kino.

–  Wenn sie gut aussehen wollen, hören sie auf, in den Spiegel zu schauen.

–  Sind sie in meinem Alter, also um die 50, sagen sie sich, mindestens einmal täglich den folgenden Satz (notabene von einem Mann): «Ältere Frauen besitzen den geheimnisvollen Glanz gelebten Lebens.» Lassen sie ihn sich im Munde zergehen, wiederholen sie ihn, tragen sie ihn vor sich her, sagen sie ihn genussvoll und langsam, singen sie ihn!

–  Wollen sie Realismus, lesen sie die Zeitung.

–  Wollen sie Veränderung, bewegen sie ihren Hintern.

–  Wollen sie lachen, lesen sie ihr Tagebuch.

–  Wollen sie glücklich sein, üben sie! Mehr als die Etüde gibt es nicht.

–  Aber seien sie sich gnädig, sie haben es verdient.

Silvia Strahm Bernet

 

 

Rede zum 8. März 2006, dem Internationalen Frauentag, Union, Basel

 

© Silvia Strahm 2006 / Vortrag 08.03.2006