Du darfst ...

 

Und schon bin ich weg. Die Türen offen, unverhofft Weite, ein unverstellter Horizont im Dunst der unbegrenzten Wünsche.

 

Zurückgelassen sollen und müssen.

 

Kein „Du sollst dies und du musst das und du solltest dies nicht und das schon gar nicht. Schluss mit Grenzposten hier und Grenzwächtern da. Das Ich nicht mehr am Zügel, brav im Trab, kontrolliert, gefestigt, gezäumt und gestriegelt, nicht länger zu verhaltenem Schritt dressiert die galoppierende Leidenschaft. Das Aufbäumen, die rollenden Augen, die dampfende Haut nicht mehr bloss im Kino, atemlos anzuschauen, sondern ungesättigt mitten ins eigene kleine Leben.

 

Selig, die nicht sollen, sondern dürfen, denn ihnen gehört das Himmelreich des ungehinderten Genusses. Aber dieser Genuss, o schnödes Ende der grossen Gefühle und Leidenschaften, ist in erster Linie einmal eine schlanke Linie, dank einer Margarine.

 

Ihr wollt Romantik, Freiheit, fort und weg ins paradiesische Leben? Bittet und es wird euch gegeben – aber vielleicht ist es nicht das Verschwinden der Routine, sondern schlicht nur Margarine.

 

Aber diese Margarine, getauft auf den alles verändernden Namen „Du darfst“, ist nicht einfach eine Margarine, sondern eine Welt! Und diese Welt ist ein traumhaftes Fleckchen fettlosen und kalorienarmen Glücks. Die Oase des straffen Oberschenkels und des knackigen Hinterns. Schwammiges Fleisch? Deponien der Nachlässigkeit und Zügellosigkeit? Schluss damit! Margarine sei’s gedankt. Sie macht uns frei, frei vom Müssen, frei zum Dürfen.

 

Zum Dürfen befreit. Kein Verzichten, kein unerfülltes Schmachten, nur kosten, was es gibt, nutzen, was angeboten und ergreifen, was möglich wird.

 

Etwa so:

 

Ich darf essen und nochmals essen, man macht es mir light. Zucker raus und Süssstoff rein, mager gemacht die Milch und das eigene Fleisch. Und wo das Gelüsten über das Gebotene hinauswill, da darf ich trainieren an mancherlei Gerät und schwimmen und turnen und strampeln und joggen über alle sieben Berge und wenn das nichts nützt, dann schau ich halt hinter die sieben Berge und da sehe ich keine Zwerge, sondern den Knochenrichter und Fleischzuschnitzer in Prinzengestalt, der macht mich von oben bis unten neu. Denn schön sollst du sein! Äxgüsi, ... darfst du sein und ich auch.

 

Du darfst, das lässt durchatmen. Macht locker. Das Verbissene fällt weg, das Gequälte, das im Abringen von Möglichkeiten Schweiss und Grimm erzeugt. Und was man alles dürfen darf. Und es ist kein Ende abzusehen.

 

Ich darf alt werden und älter und uralt und noch älter, denn ich darf doch bitten: So eine Krankheit, so ein Tod, das lässt sich doch vermeiden. Und ich darf das denken, und die anderen dürfen forschen, was sie nicht dürften, wenn ich nicht so dächte. Aber so zu meinen Gunsten und ihren, da darf so manches Argument die Grenzen des Erlaubten übersteigen und predigen: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Leiden, das dazu passt. Lasst es uns verhindern oder mindern, lasst es uns heilen. Der Zweck ist heilig und wo der Zweck heilig ist, muss es auch Opfer geben.

 

Ich darf zu allem bereit sein. Darf Abenteurerin sein, Weltenreisende, Freizügige und Flexible. Ich darf eine Ausbildung machen und dann noch eine und noch eine, darf jederzeit den Arbeitsplatz wechseln und den Wohnort und die Heimat und die PartnerInnen und die Haarfarbe auch. Ich darf Feng Shui und Buddhismus und Astrologie und Magie und Mystik und Leere und das reine Gar-Nichts. Ich darf Sadomasochismus und Gruppensex und One-night-stand und Telefonsex und Life-Sex-Shows und nicht nur am sondern auch mit dem Geschlecht spielen, das darf ich auch. Ich darf nicht wissen, wer ich bin und es ausprobieren.

 

Ich darf eine Frau sein, die endlich auch noch ein Mann ist. Ich darf zum Mond fliegen, boxen, Kerne spalten, Panzer fahren und ein bisschen schnuppern in den Chefetagen. Ich darf ins Ministerium, in die Küche und ins Forschungslabor, ich darf einen interessanten Beruf ausüben und Kinder grossziehen und erst noch den Haushalt machen. Ich darf eine Heldin des alles-unter-einen-Hut-bringens sein, ein Genie, eine wahre Grösse, in allen Belangen und ich darf dafür gelobt werden. Ich darf aussehen wie ein schöner Mann, aber durch und durch ganz Frau, ich darf ein Hirn haben und einen schönen Hintern, ich darf den Laufsteg entlangwackeln auch mit einem hohen IQ. Das geht alles. Und mit Applaus!

 

Ich darf allzeit nicht allein sein müssen. Ich darf Stunde um Stunde telefonieren und Mails versenden und SMS. Ich darf Teil eines riesigen Netzes sein. Ich darf mich sogar darin verfangen, allein und mit anderen. Ich darf mobil sein, mit Auto, Boot, Flugzeug und auch im Charakter. Das ist beim Dürfen eine Notwendigkeit, die charakterliche Mobilität. Weil sonst steht man allen und auch sich im Weg.

 

Ich darf endlich ein glücklicher Mensch sein. Darf rund um die Uhr Spass haben und einkaufen und fernsehen. Darf die Pflichten ausbalancieren durch eine Unmenge Vergnügen.

 

Ich darf das alles und noch viel mehr. Und das alles ist furchtbar schön und nur manchmal werde ich etwas müde vom vielen Dürfen, und ich lege mich hin und möchte einfach nichts mehr dürfen müssen. Denn es ist ja neben allem furchtbar Schönen auch furchtbar anstrengend. Und manchmal fehlt mir einfach die Kraft.

 

Aber das dauert nicht lange. Man ist ja trainiert irgendwie. Und bald ist alles wieder in Butter, äh natürlich, das ist jetzt peinlich, sorry, in Margarine.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Kolumne