Die Früchte in unserem Garten ...

 

Tschernobyl war eine Katastrophe ohne mildernde Umstände. Keine der üblichen Mischungen aus Unbeeinflussbarem und Nachlässigkeit. Kein Wasser, kein Berg, kein Feuer kam über die Menschen. Nur sein eigener Fehler. Das „Warum?“ erhielt für einmal einen anderen Adressaten – keinen Gott, nicht irgendein Schicksal, nur unsere eigenen Vorstellungen von Risiko und Sicherheit. Viel verändert hat sich seither nicht. Nicht an unserem Denken, nicht an unserem Tun. Ein Grund mehr, sich zu erinnern, wer wir sind.

 

Es war einmal, da herrschte Gott über Himmel und Erde und alles, was war und ist. Er sass dort oben irgendwo. Sah uns zu. Tag und Nacht. Hatte gute Augen und grosse Pläne. Verlangte viel, wurde meist enttäuscht. Liess unsere Bitten vortreten, sortierte sie. Erhörte ein paar. Die wenigsten nur. Schickte Wasser, Feuer, Heuschrecken und Ausschlag. Zu vernichten und zu schützen – die einen vor den anderen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, murmelten wir hienieden. Ehrfürchtig, demütig, verständnislos.

Dies war einmal. Die grossen Erzählungen erzählen sie noch immer, die dunklen Geschichten, manchmal auch die hellen – von unserer Herkunft und unserem Geschick, vom Sinn des Ganzen und von seinem Zweck. Die Erzählungen verblassen, ihre Deutungen halten nicht stand, nicht unserem Wissen, nicht unseren Zweifeln.

 

Stolz

 

Wir sind stolz. Auf uns. Mit gutem Grund! Auf allen Vieren haben wir begonnen. Bis ins Weltall sind wir gelangt. Durch alles sind wir gefahren, geflogen, getaucht. Wir haben zerteilt, aufgebrochen, neu zusammengefügt. Hineingeschaut, verkleinert, vergrössert, neu gemischt. Wir schaffen Dinge, immerzu, unsere Neugier ist gross. Sie macht nirgends halt. Wir sind so, sagen wir. Wir können nicht anders. Erfinden etwas, machen Undenkbares möglich, schaffen Probleme aus der Welt. Und erfinden damit neue hinzu. Wir kommen an kein Ende. Bereiten es bloss vor.

 

Vergessen

 

Tschernobyl ist nur ein Teil davon, ein Intermezzo. Vergessen, mehr oder weniger. Nur von den Opfern nicht und denen, die es krank macht, nach wie vor. Zwanzig Jahre Zeit und nicht viel gelernt. Nicht über uns, nicht über das, was wir tun. Macht euch die Erde untertan, steht in unserem heiligen Buch, das wir weggelegt haben, die meisten von uns. Aber die Botschaft hallt nach und gilt. Wie man mit Untertanen verfährt, wir haben es gelernt: Beherrschen, unterwerfen, ausbeuten. Danach wegsehen, weghören, vergessen. Wir können es gut.

 

Der Garten

 

Dass die Erde ein Garten sei, zu bebauen und zu bepflanzen. Auch das steht in unserem heiligen Buch. Das wir weggelegt haben, um weiterzukommen. Nach Freiheit hat uns verlangt, nicht nach Fürsorglichkeit. Wir sehen gerne ins Ferne, aber bevorzugen die Nähe unseres Vorteils. Schauen nach dem Nutzen, und vergessen seinen Preis. Ab und zu schreckt uns etwas auf und unsere Bilder formen sich neu. Die Vögel, unsere freieren Gefährten, werden zu Todesboten. Sicherheit, durch Terror und Virus bedroht, bekommt einen neuen Klang.

 

Unsere Inseln gehen langsam unter in der einen Welt. Wir sind weit gekommen. Und haben unterwegs Einiges verloren. Wir sollten nicht wählen müssen, was schwerer wiegt, Gewinn oder Verlust.

 

Dass wir Schönes schufen und Schmerz, verrückte, wunderbare Dinge und grauenhafte Übel, beides ist wahr. Und verlangt uns Denken ab. Darüber, was ein gutes Leben ist, was es dazu braucht und wie wir es organisieren, dieses Recht.

 

Schauen wir in die Welt, schauen wir in unser Gesicht. Es ist schön und verunstaltet zugleich. In vielem unser Werk. Grund für Stolz und Scham. Wüssten wir bloss, was wir in all unserem Können tatsächlich wollen, nicht nur für uns, sondern tauglich für alle, wir hätten es weit gebracht. Und die Früchte in unserem Garten wären schön und sie würden für alle von den Bäumen hängen.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2017 / Kolumne