Alles, was geschieht, geht dich an

 

1. Akt: Grössenwahnsinnige Phase

 

Alle Kinder sind grössenwahnsinnig. Mädchen sind Kinder. Also sind alle Mädchen grössenwahnsinnig. Wenn sie klein sind, wenigstens dann. Sie meinen, die Welt ist alleine für sie geschaffen; haben sie ein bisschen Luft in den Därmen, dann wird herbeigeschrien, was gerade da ist, erbarmungslos. Winzlinge sind sie zwar, diese strampelnden Egos, aber Winzlinge mit All-Macht, mit Bindekräften, den Gesetzen der Schwerkraft verwandt. Ihre Allmacht ist eine jenseits des Denkens, eine Anmassung, die im Leben steckt, das überleben will, mit Gebrüll. Natürlich ist sie gleichzeitig die fragilste Form von Macht, denn sie ist absolut abhängig vom Wohl-Wollen und der Liebesbereitschaft anderer.

 

2. Akt: Romantisch-heroische Phase I

 

Sie ist schwer datierbar, je nach Mädchen verschieden, und sie sieht heute anders aus als gestern. Ich bin von gestern. Meine romantisch-heroische Phase war – präpubertär und pubertär –, rein literarisch. Und gänzlich politisch unkorrekt, nach heutigem Massstab. Die Wirtspflanzen meines Grössenverlangens hiessen Winnetou und Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Sogar tot waren sie noch besser als Ntschotschi und ihresgleichen. Begeistern konnte ich mich lediglich an Ntschotschis langen schwarzen Zöpfen, dem reichbestickten Ledergewand und dass sie Old Shatterhand pflegen durfte, den nackten.

 

Insgesamt waren die Abenteuer von Winnetou & Co. noch kein Weltrettungsprogramm, aber doch heldenhaft genug, um mädchenhaften Ansprüchen zu genügen. Später kam es dann zu den üblichen Liebesentgleisungen, wo die wunderschöne Heldin, unschwer als das eigene Ich erkennbar, den einsam herumstreifenden Wolf in ihren Bann zieht – den mit dem zynischen Lächeln, dem vielsagenden Schweigen und dem Blick, der einem heisskalte Schauer über den Rücken jagt. So wird keine Welt gerettet, aber das eigene Ego, das kükenhaft kleine in seiner dünnen Schale. Nichts, das etwas ahnen liesse von späteren Weltveränderungswünschen, kein Widerstandsprogramm gegen Unzumutbares, keine Vorstellung: die Welt wartet und zwar auf mich! Einfach ein literarisch geborgtes, tagträumerisches Leben im alles erfüllenden Land Eden, dem Land ohne Schule, spottende Jungs, mühsame Eltern, fiesen Mädchen; dem Land jenseits der Verlorenheit in einer zu gross gewordenen Welt, die keinen Platz vorsieht, den man sich nicht selbst eroberte.

 

Kinkerlitzchen, Mädchenkram, unernst, lachhaft ... und doch die Schiene, auf der der Zug anrollt: Grösse für den Traum, Niederlagen fürs wirkliche Leben. Ich kann alles, wenn es denn fiktiv sein darf. Die Wirklichkeit fährt auf der zweiten Spur mit. Bis man nicht mehr weiss, was das heisst: das wirkliche Leben.

 

3. Akt: Der Absturz in die Welt

 

Was willst du werden? Mit deinem Leben anfangen? Die schrecklichste aller Fragen. Keine Ahnung! Wollte ich je etwas werden? Ausser die Heldin meiner Träume? Die Angebetete? Von allen Geliebte? Was willst du werden – die Höllenfahrt in die Wirklichkeit. Das Leben in die eigene Hand nehmen – aber wo sind die Hände? Die haben nichts gelernt als die Seiten umzublättern im Buch der Träume. Aber die Verstossung findet statt, in jedem Fall. Die Tür zur wirklichen Welt wird aufgemacht und man wird hinausgestossen, irgendwann, das Leben ist nicht nur für die, die sich freiwillig melden. Man kann auch dazu verurteilt werden.

 

Und man sieht sich eingekreist von den Tüchtigen, die wissen, was sie wollen, was sie können und wie sie es erreichen. Denen die Welt keine Zumutung ist, sondern der Raum für ihre Unternehmungen, ihr Feld der Möglichkeiten, etwas mit sich anzufangen.

 

Es kann auch ganz anders aussehen: Man tritt vor die Tür, und die Welt ist schrecklich, ein ungastlicher Ort, ein Schlachtfeld, nicht nur im Krieg. "Nur für Starke", steht am Eingang geschrieben, aber wenn man endlich lesen kann, ist es bereits zu spät.

 

4. Akt: Romantisch-heroische Phase II

 

Die Welt muss ganz anders sein und dann trete ich ein – der Same der Allmacht, phantastisch naiv. Sie muss anders aussehen, ganz anders, denn sie kann anders aussehen. Es muss möglich sein , oder es ist nicht auszuhalten. Und es liegt an mir, dass sie ihr Gesicht ändert, dass sie freundlich wird, nicht schreit, aufhört, mit den Zähnen in Stücke zu reissen, zu fressen und auszuspucken.

 

Du glaubst (noch) wie alle, die, was ist, nicht anerkennen, dass man alles ändern kann, sogar Menschen und zwar zum Besseren, zum Guten gar. Du glaubst, wen das alles nicht kümmert, hat einfach nicht genug nachgedacht. Du denkst im Ernst, es ist einfach eine Frage der richtigen Konzepte, der überzeugenden Ideen, und von ein bisschen gutem Willen.

 

Und natürlich wirst du umgehend zu Atlas, der die gesamte Erde auf seine Schultern lädt: "Alles, was geschieht, geht dich an". "Denke daran, dass der Mensch des Menschen Feind ist und dass er sinnt auf Vernichtung ... Denke daran: Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, aber in deinem Herzen. Denke daran, dass du Schuld bist an allem Entsetzlichen, das sich fern von dir abspielt". So hat Günter Eich meine noch dünne Haut kartographiert – eine lebenslange Tätowierung, auch wenn man sie nicht sehen kann.

 

5. Akt: Romantisch-heroische Phase III

 

Irgendwann dann auch noch das: Die Entdeckung, dass die Welt nicht nur ein ungastlicher Ort ist und der Boden der Zivilisation dünn wie eine erst kürzlich verheilte Wunde, auch ein Ort für Frauen ist sie nicht. Ein paar Jahrzehnte erst ist es her, erfuhrst du, dass man sie aus ihren Häusern liess und der Vermutung Gehör schenkte, dass ihre Köpfe nicht bloss dekorativ gemeint waren, sondern auch vernünftiger genutzt werden können. Das Gewicht der Welt, nicht eben leicht, auch wenn's einem bloss als Nachrichten aus aller Welt auf Kopf und Herz lastete, wurde so um das Gewicht von 2000 Jahren weltweiter Geringschätzung von Frauen vergrössert.

 

Aber nicht nur die Welt, auch das eigne Ich scheint unbelehrbar. Noch immer willst du sie retten, die Welt – mit dem richtigen Gedanken, mit der richtigen Moral. Du willst etwas Gutes tun, etwas, das die Welt besser macht, du glaubst, das gehört zum Eintrittsbillet ins Leben – dass man die Welt besser macht, gastlicher, freundlicher. Du hältst es für einen Auftrag, der an die Tatsache gekoppelt ist, dass du lebst.

 

Du hast kein Problem damit, wenn du nur wüsstest, wie genau dein Auftrag lautet und wie man "die Welt ändert". Beim ersten Schritt schon scheiterst du. Aber du hältst fest an deinem Programm, denn "Du bist Schuld an allem Entsetzlichen, das sich fern von dir abspielt". Du liest ein Dossier von Amnesty International und du willst das alles nicht glauben; Nachricht für Nachricht willst du das nicht glauben müssen; du verstehst mit jedem Zeitungsbericht über Folter, Mord, Terror, Krieg den Ausdruck "unter Menschen gefallen" und hältst das Schlimmste immer für möglich, obwohl du es nicht glauben willst. Du liest einen Bericht über "Das Land der toten Mädchen" – die Abtreibung oder Tötung von Mädchen in Südkorea – und möchtest sofort davonrennen und etwas tun. Und dann duckst du dich natürlich unter den Hammerschlägen der Argumente, dass das wiederum typisch ist, Veränderungswünsche in die Ferne zu delegieren; dass das Ausweichstrategien sind, da genügend veränderbares Unrecht vor deiner Nase liegt. Also, natürlich willst du auch vor deiner Nase ... Aber auch vor deiner Nase liegen ganze Welten. Und du scheiterst erneut am ersten Schritt. Denn du verlangst von dir nicht, etwas Gutes zu tun, im Rahmen deiner Möglichkeiten, sondern du verlangst von dir, das Gute zu tun und so, dass man es der Welt ansieht.

 

6. Akt: Projekt Grössenwahn

 

Der grösste Fehler der Frauen sei ihr Mangel an Grössenwahn, so oder ähnlich hat es Irmtraud Morgner vor vielen Jahren formuliert. Auch das ein Programm. Übermütig, frech, trotzig. Wenn wir wollen, zeigen wir's euch. Wir wollen mehr, als wir zu können glauben. Die Amerikanisierung weiblicher Selbstunterschätzung: von der Verkäuferin, Coiffeuse, Putzfrau zur Multimillionärin. Aber wahrscheinlich meinte sie es eher so: Von der Privat-Frau zur Welt-Frau, vom Kindermädchen, der Kühlschrankfüllerin, der Ehemannbeglückerin und Haus/Wohnungsreinigerin zur Computerfirmenbesitzerin, Konzernmanagerin, Ministerin, Weltraumfahrerin, Jetpilotin, Nobelpreisträgerin. Das ganze Heldinnenprogramm. Ich bin gross, ich bin stark, ich bin glücklich, ich bin eine Frau. "I'm a woman, hear me roar, numbers to big to ignore". Schön. Ermutigend. Bloss, wie machen die das nur? – Erinnerungen an Old Shatterhand werden wach. Die Inkarnation Old Shatterhands im weiblichen Fleisch? Ist es das? Natürlich nicht! Die Frauen Irmtraud Morgners jedenfalls, die sind grössenwahnsinnig und haben Kinder und unaufschiebbare Pflichten in Haus– und nicht nur Weltformat. Geerdet, sagen wir, geerdetes Leben, geerdete Träume von einer besseren Welt. "Mit beiden Beinen auf der Erde träumen", so beschreibt es Christa Wolf. Und nennt es eine besondere Fähigkeit von Frauen: Realistisch sein und die Hoffnung auf Veränderung nicht aufgeben. Im Wissen: "Alles, was geschieht, geht dich an".

 

7. Akt: Die programmierte Niederlage

 

Gut. Die ganze Welt geht dich an. Also tust du dein Möglichstes, aber das ist nicht viel, angesichts der Welt. Du gibst dir Mühe, balancierst an den Grenzen der Belastbarkeit, immer kurz vor dem Absturz, den du jämmerlich nennen würdest und feige. Angesichts dessen, was zu tun wäre, tust du immer zuwenig, auch wenn dieses "zuwenig" noch zuviel ist. Du kannst es nicht richtig machen – so lautet das Kleingedruckte beim Weltverbesserungsprogramm. Auch das feministische schaffst du nicht, nicht das volle Programm. Was du umsetzt sind Stückchen, auch wenn die Stückchen schon etwas sind, angesichts deiner Ausgangslage. Und dennoch horchst du auf bei Lobgesängen auf die "Zehnkämpferinnen", jene Frauen, die vier fünf Kinder haben und ein Haus und eine Firma leiten und glücklich verheiratet sind und täglich ihre Joggingrunden drehen und sagen: Kein Problem das zu schaffen! Jede kann das, wenn sie nur will! Alles andere – Ausreden! Opferprogramm oder Mangel an Qualifikation! Hinter jedem Satz ein Ausrufezeichen, wie eine Ohrfeige. Und du schaust dir deine Agenda an, deine Arbeit bis spät in die Nacht und du hast nicht vier Kinder, sondern bloss zwei, kein Haus, sondern eine Wohnung, keine Firma, sondern ein 20%-Job, und publizistische Aufträge und ab und zu ein Auftritt, ein Referat, und einiges an Ehrenamtlichem und du fragst dich, was ist hier eigentlich los? Träum ich? Bin ich wach? Ist das Arbeit? Wieviel Stunden hat ein Tag, eine Woche, ein Leben? Wieso bin ich müde?

 

Das alles erinnert dich an deine romantisch-heroische Phase, nur dort bewohnten deine Helden und Heldinnen fiktives Land, wo sie heutzutage vor deiner Nase sitzen, medial prächtig präsent und doch ist es wirkliches Leben und sie rechnen dir dein immerwährendes Ungenügen vor in Stunden, Tagen und Jahren.

 

Jede Frau braucht eine andere Frau, die grösser ist als sie, weiter, erfahrener, weiser gar, so heisst es heute. Damit frau selber weiterkommt. Denn Wachstum ist alles. Was nicht wächst, geht in Konkurs. Es lebe die Ökonomie, sie verschone nichts und schon gar nicht einen selbst. Jede ein kleines Unternehmen, eine eigene kleine Welt, perfektioniert ein Leben lang, entwickelt mit Supervision und Weiterbildungen und Karriereschritten und Kursen in allem und jedem und so formt sich frau das innere Potential in dauerhafter Anstrengung nach aussen – eine Bildhauerin ihrer selbst. Aus unbehauenem Stein verfertigt sie das Kunstwerk ihrer Selbst und lässt sie einmal den Meissel sinken und tritt einen Schritt zurück, dann nur, um zu sehen, wo als nächstes das Formlose ins Gestaltete zu hämmern ist. Reichten früher Brillianten, um sich im Lebensrennen erfolgreich zu zeigen, so braucht es heute Diplomtrophäen an den Wänden und dann heiter, immer weiter, weiter, weiter, weiter, weiter ...

 

Manchmal muss das Stück neu geschrieben werden

 

Man führt einen Monolog sein Leben lang, schrieb György Konrad. Die Welt verbessern, in-der-Welt-Sein mit der Verantwortung und der Pflicht, sie besser zu machen – ob durch Bücher verdorben, durch Heldengeschichten, eigene Erfahrungen – man wird diese Pflicht nicht los. Es ist eine Art Verderben, denn es knüpft einen ein Leben lang an Niederlagen. Natürlich liegt das in der Natur der Sache, natürlich gibt es die Macht nicht, die nötig ist, die "Welt zu ändern"; was ist schon die Welt, ausser einem Abstraktum? Und doch: Mit Sätzen geschlagen wie "Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, aber in deinem Herzen", ist man nie zufrieden mit dem, was man tut, zweifelt man ein Leben lang an sich, hält man sich ein Leben lang für zu träge, zu feige, zu gleichgültig, zweifelt man ein Leben lang auch daran, ob man es je über die Mädchenmorgenblütenträume hinausgebracht hat und tatsächlich einmal vorhatte, in der Welt nach dem Rechten zu sehen. Dass Misstrauen bleibt, dass man aufgibt, bevor man richtig angefangen hat, dass aber auch die kindlich erworbenen Allmachtsphantasien nicht über alle Zweifel erhaben sind. Dass sie, neben der Naivität, die ihnen eigen ist, einen nicht nur antreiben, sondern ebensosehr glücklos an Ohnmacht ketten und hindern, zu tun, was einem möglich wäre.

 

Der grösste Fehler der Frauen ist ihr Mangel an Grössenwahn. Der Satz ist ein Köder, eine Allmachtsprogrammierung, die herauslocken soll aus dem trauten Nest der Selbstbeschränkung. Sie sind not-wendend, manchmal, solche Sätze, aber auch Fallen und gefährlich. Manchmal bräuchte man andere Sätze, näherliegendere, einen wie diesen vielleicht: "Einmal im Leben sollte man an das Mögliche geglaubt haben und daran, dass es erreichbar ist und genügt."

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2014 / Kolumne