Mein Held ist er nicht

 

Bis vor kurzem gelang es mir gut, an diesem Mann vorbeizukommen. Manchmal mischte sich in mein Desinteresse eine kurzzeitige Empörung, manchmal Respekt, ab und zu nahm ich ratlos zur Kenntnis, wie viel Verehrung ihm zuteil wurde, aber es gelang mir gut, ihn zu ignorieren. Sein Sterben und sein Tod hingegen machen ihn unausweichlich. Wie ein monumentales Hindernis schiebt er sich in mein seit Jahren trainiertes Wegsehen und Weghören und ich muss widerwillig zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen nicht mit dem Kopf, sondern mit den Füssen und irgendetwas, das dazwischen liegt, ihre Entscheidungen treffen.

 

Der naive Gaube an die Vernunft

 

Ich bin naiv, denn ich glaube an die Vernunft. Mein Glaube verweigert sich der Verehrung, er glaubt, dass ein Glaube ohne Zweifel hemmungslos wird, beängstigend immun gegenüber sorgfältigem Denken. Es ist diese Art Hemmungslosigkeit, die mich ängstigt.

 

Mir wird gesagt, und ich sehe es manchmal auch ein, dass es der Glaube mit dem Geheimnis zu tun hat, mit dem grösseren Raum, mit dem, das alles, was ist, übersteigt. Mir wird gesagt, dass der Glaube seine eigentliche Heimat im Symbol und Ritus und nicht im Denken hat.

 

Ich weiss das und weiss es irgendwie nicht. Wüsste ich es, würde mich nicht überraschen, was seit Tagen und Wochen, medial vermittelt, vor sich geht. Und doch: ich schlage eine Zeitung auf, irgendeine, ich schalte den Fernseher an, das Radio, ich höre, was gesagt und in Endlosschlaufen voller Bewunderung kommentiert wird und muss mir eingestehen und will es trotzdem kaum glauben: was hier inszeniert, aber auch ernsthaft empfunden wird, ist wohl der grösste Tod aller Zeiten seit der Kreuzigung jenes Mannes, in dessen Dienst sich Papst Johannes Paul II gestellt hat und in dessen Gestalt er für viele geschlüpft zu sein scheint.

 

Wie jener menschenfreundliche Wandercharismatiker hat er reisend sein Evangelium verkündet, mit prophetischer Schärfe benannt, was diese Welt für zu viele Menschen zu einem entsetzlichen Ort macht: Hunger, Armut, Ausbeutung, ungezügelter Kapitalismus, Gewalt, Krieg. Würde unsereins mit denselben Worten von Balkonen, Bühnen und Lehrschreiben herab in die Welt rufen, wir würden als Gutmenschen im besten Fall belächelt, im realistischeren verachtet. Aber der Papst ist ja nicht unsereins oder nur manchmal: wenn er Ski läuft oder im Schwimmbad seine Runden dreht. Das ist nicht Ironie, das ist eine der Antworten auf die Frage nach dem Besonderen dieses Papstes. Ich nehme zur Kenntnis: ein Mensch zu sein ist für einen Papst etwas Ausserordentliches. Und es reicht, ihn zu einem Heiligen zu machen.

 

Heldenhaft? Ein Mensch zu sein?

 

Ich gebe gerne zu, dass es schwer genug ist, ein Mensch zu sein, auch für einen Papst. Ich bin bloss irritiert und es nicht gewohnt, dass es einen zum Helden macht.

 

Das ist es ja nicht, wird mir gesagt, es ist sein unermüdlicher Einsatz für die Menschen und ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben, eine Parteilichkeit, die nicht verstummt und noch im Sterben, noch im Versagen der Stimme seltsam eindringlich und beredet verkündet wird.

 

Wie eine Krämerseele erscheint, wer dagegenhält und die Widersprüche benennt, die dieses Heldenepos stören: etwa die guten Beziehungen zum Diktator Pinochet, die arrogante Abstrafung und Absetzung kritischer TheologInnen, die Unterstützung des Opus Dei, das Reden von Menschenrechten und der Würde des Menschen bei gleichzeitiger Inkaufnahme millionenfachen Todes durch das absolute Verbot von Kondomen. Die Idealisierung von Frauen in der Gestalt von Müttern, das Loben und Preisen ihres unverzichtbaren Beitrages für die Welt, auf den man selber, im inneren Zirkel der Macht, gerne verzichtet. Aber solche Argumente sind wie Mücken auf einem Elefanten; ihr Stachel geht nicht unter die dicke Haut derer, die die Dinge richtig zu gewichten wissen.

 

Mit Drängeln ist nun endlich Schluss

 

Die Dinge, etwa in Bezug auf Frauen, richtig zu gewichten, das ist mir schon immer schwer gefallen. Es ist mir nie gelungen, sie, wie verlangt, im Lichte des göttlichen Geheimnisses zu sehen, sie schienen mir eigentlich immer einigermassen klar: Im Himmel und auf Erden sind die höchsten Ämter in der Regel von Männern besetzt, in den Kirchen sogar die unteren. Mit eigenwilligen theologischen Schlüssen hat man Schluss gemacht mit dem ewigen Drängeln der Frauen um Einlass ins Zentrum kirchlicher Macht. Davon zu sprechen, ist inzwischen verboten. Ein für alle Mal.

 

Aber all diese unangenehmen Dinge wie der kirchliche Umgang mit AIDS, das Verbot der Pille, das anhaltende Misstrauen gegenüber der Sexualität, vorab der Lust, der Ausschluss der Frauen, all dies tut der moralischen Autorität des Papstes keinen Abbruch. Das macht ihn eben menschlich, sagt man mir, dass er voller Widersprüche ist. Der Mann ist nicht starrsinnig und engherzig, der Mann hat eine Haltung, hat Charakter und Charisma. Gegen den herrschenden Trend besetzt, verkörpert er darin Standfestigkeit und Linientreu.

 

Wer bin ich, dass das bei mir keine Wirkung zeigt? Man kann schon ins Grübeln kommen, wenn man nüchtern bleibt, wo andere schwärmen, Einwände formuliert, während andere weinen. Ich würde gerne sagen, als Frau hätte ich einigen Gründe, Distanz zu nehmen zu diesem Papst und seinem old men’s club, der sich so erfolgreich als moralischer Findling in den Wüsten des Sittenzerfalls behauptet. Aber das geht leider nicht. Erstens habe ich vor Jahren aufgehört, „als Frau“ zu sagen, weil das biologische Geschlecht auf die Dauer eine zu kleine Basis für Gemeinsamkeiten ist, zum anderen strafen mich die Bilder Lügen: Millionen von Frauen scheinen hier genauso das Öl zu sein, das die Räder der kirchlichen Organisation schmiert und am Laufen hält. Nur ein paar nimmermüde Feministinnen an ein paar vernachlässigbaren Orten in der Welt sind so kleinlich und fragen immerzu die selben dummen Fragen. Es sind übrigens gerade Frauen, die mir entgegenhalten, dass dieser Papst, wie kein anderer zuvor, die Frauen beachtet und geachtet und sich für ihre Rechte stark gemacht hat. Ein eigenes Dokument hat er gar „ihrer Würde“ gewidmet. Und hat er nicht, einem Troubadour gleich, die Jungfrau Maria verehrt, geliebt und besungen wie kein anderer? Hat er wohl. Aber was nützt mir das? Verehrung beinhaltet nicht notwendigerweise Respekt, die Liebe zur himmlischen Frau führt nur allzu oft in die Missachtung der irdischen, was die Geschichte der Kirche zur Genüge beweist.

 

Der Glaube an den Zweifel

 

Nach wie vor ratlos, nehme ich zur Kenntnis, dass einer eine moralische Autorität sein kann, auch wenn das, was er verkündet und einfordert, schlussendlich keine grosse Bedeutung hat.  Die Appelle des Papstes gegen den Irakkrieg haben nichts gefruchtet und doch hat er in George W. Bush einen grossen Verehrer gefunden. Auch die Millionen jugendlicher Fans wissen offenbar genau zu wählen, wo zu jubeln und wo wegzuhören ist. Das ist normal, wird mir gesagt. Denn wir sind viel komplizierter, als wir wissen. Oder auch einfacher. Wir wollen die Helden nicht nur im Kino, sondern auch im wirklichen Leben – Vorbilder, Anzubetendes, Orientierung in schwierigen Zeiten; einen, der schafft, was wir nicht vermögen: zu sein, was er scheint.

 

Meine Sache ist das nicht. Wenn ich etwas verehre, dann ist es der Zweifel. Er hält einen wach. Aber manchmal auch fern – oder wie es in den „Nachtwachen von Bonaventura“ heisst: „Eins ist nur möglich; entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.“

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

Artikel erschienen im Tages Anzeiger Zürich zum Tod von Johannes Paul II (2.April 2005)

 

© Silvia Strahm 2005 / Kolumne