Im Fussballfieber

 

Wer Fussball liebt, ist krank. Ich liebe Fussball. Das Ballfieber hat mich fest im Griff, ich fühle mich grossartig. Mit mir fiebert die ganze Schweiz. Sie hat sich grossflächig angesteckt, behaupten diverse Werbespots, und für einmal glaube ich ihnen hier gern. „Die Schweiz im WM-Fieber“ zeigt sich unerwartet originell: Der Abfallsack wird nicht wie üblich an den Strassenrand gestellt, sondern vom Trottoirrand her über die Strasse eingeworfen, der Postbote bringt das fussballähnliche Paket nicht zur Haustüre, nein, er kickt es über den Zaun in den Vorgarten, und die Geschäftsherren tauschen nach ihrer Sitzung nicht nur Formalitäten aus, sondern auch ihre Hemden. Natürlich ist das Phantasie, wenn auch in Bestform, vielleicht ist es sogar eine Ausgeburt des Fieberwahns, der mit dem Fussball einhergeht. Nichtsdestotrotz warte ich auf den Moment, da einer mit einer Wassermelone durch die Migros dribbelt.

 

Ich weiss, das wird nicht geschehen, und die meisten verhalten sich weiterhin ganz ordentlich. Sie gehen, wie immer, jeden Tag zur Arbeit, erledigen ihre Pflichten in Haus und Welt, die Fussballinfizierten unter ihnen beschränken sich einigermassen bescheiden auf die allabendlichen Zusammenfassungen, und die Ungerührten bringen es weiterhin problemlos fertig, ihren Feierabend draussen in einem der vielen Strassencafés zu verbringen, auch wenn sich dort nirgends ein Fernseher befindet. Diese Leute sind von beeindruckender Gleichgültigkeit und ausserordentlicher Gesundheit, ihr Immunsystem lässt das Fussballvirus gnadenlos im Abseits stehn. Ob das alles mit rechten Dingen zugeht, es ist fraglich. Abgesehen davon sei die Frage erlaubt: Kann, wer nicht wegen Zidane leidet, überhaupt ein zu Gefühlen fähiger Mensch sein? Muss jemand mit Gerechtigkeitssinn nicht beim Ausscheiden der Iren ein paar Tränen aus den Augenwinkeln wischen?

 

Nein, muss er nicht. Wer nicht unter Fussballfieber leidet, ist überzeugt, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und er weiss, da läuft überhaupt nichts rund. Nur vom Fussballfieber Geschwächte, denkt so ein Mensch, vergässen das und befänden sich zeitweise im irren Wahn, die Welt gleiche einem Ball, und man könne sie mit Kraft, Ausdauer und Geschick ins rettende Netz versenken. Derweil ihr fiebriger Blick gebannt an einem Fussball hinge, werkelten andere weiterhin ungerührt und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte an der Weiterführung bestehender oder der Vorbereitung der nächsten Katastrophen. Nach jedem verpatzten Torschuss geht ein Aufschrei durch die Reihen. Beim Reden von nuklearen Erstschlägen? Nichts! Der Weltöffentlichkeit Blick ruhte da vielleicht gerade auf einem gelungenen Doppelpassspiel. Ein aberkanntes Tor? Schmäh und Schande über den unfähigen Schiedsrichter. Aber wo ist das Pfeifkonzert für Herrn Berlusconi, der den Hungergipfel in Rom zwei Stunden früher beendete, damit er seine Azzurri spielen sehen konnte? Der Vorwurf sitzt, und mag sich auch Herr Berlusconi keiner Schuld bewusst sein, wir Fussballfiebrigen sind es.

 

Es scheint tatsächlich so, als komme eine normale Katastrophe gegenwärtig einfach nicht an gegen fussballerische Ereignisse. Keine Chance für einen angedrohten Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan, für die neue amerikanische Militärdoktrin mit ihrer Androhung nuklearer Erstschläge gegen „Schurkenstaaten“, die Massenvernichtungswaffen besitzen, für ein massives weltweites Ansteigen der Militärausgaben bei gleichzeitig nicht zur Verfügung stehendem Geld, um gegen den Skandal des Hungers anzugehen.

 

Eines ist klar: Wer angesichts solcher Vorkommnisse weiterhin um den Einzug seiner Lieblingsmannschaft ins Viertel- oder Halbfinale zittert, kommt trotz Herzklopfen, zitternden Händen, Wut- und Freudengeheul nicht um den Vorwurf herum, nicht nur dumm, sondern schlicht gefühllos zu sein.

 

Nun sind fussballfiebernde Köpfe sicher nicht ganz im Vollbesitz ihrer normalen Geisteskräfte und ereifern sich tagtäglich über Nichtigkeiten, aber vielleicht können sie nicht ganz zu Unrecht einwenden: Würde man das alles doch nur so ernst nehmen wie eine Fussball-WM! Es gäbe klare Regeln, ein Schiedsrichter stünde bereit, der pfiffe die Fouls, verwarnte unfaires Verhalten, zückte bei grobem Einsteigen die rote Karte und stellte die Schuldigen vom Platz. Und wir, die wir meist Vorlieb nehmen müssen mit den Tribünenplätzen des Weltgeschehens, wir sähen in Grossaufnahme und mehrmaliger Wiederholung alles, auch die miesen Tricks und fiesen Finten, die Lügen und die Inszenierungen der Unschuld. Würden in der Welt nur ein paar Fussballregeln gelten, sie würde entweder anders aussehen oder die Mehrheit jener, die gegenwärtig machtvoll mit der Welt nach eigenen Regeln spielen, sässen auf der Bank am Spielfeldrand und müssten für die nächste Runde passen.

 

Wer unter Fussballfieber leidet, ist zwar ab und zu ausser sich, nicht ansprechbar und ganz weit weg, ist aber dennoch imstande, die Welt von einem grünen Rasen zu unterscheiden und Friedensgespräche nicht mit dem Tausch verschwitzter Trikots zu verwechseln. Niemand ist so dumm und meint, die Welt mache eine Pause, während er sich das Spiel Schweden gegen Senegal anschaut. Höchstens so dumm zuzugeben, dass er oder sie, für ein paar Wochen, ab und zu zwei Mal fünfundvierzig Minuten Pause von der Welt macht. Und es nicht bereut.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne