Internetverlockungen und Buchvöllereien

 

Das Internet, es ist wirklich nett! Immer bereit, einem jede Frage zu beantworten.

 

Mehr noch: Auf eine jede Frage eine Unmenge von möglichen Antworten zu liefern. Was dann wiederum nicht mehr ganz so nett ist, weil die Fragen manchmal unter der Fülle der Antworten beinahe zusammenbrechen. Es ist ja nicht so, dass man sozusagen an der Hand direkt vor die richtige Antwort geführt wird. Man wird vielmehr mitten ins Gewühl gestellt. Rundherum Abzweigungen, Querstrassen und nichts als Verlockungen – man möchte dahin schauen und hinter diese Ecke und womöglich noch schnell alles auf einen Blick. Und man klickt und liest und klickt und staunt und klickt weiter, und es ist zum Verrücktwerden, was sich da alles vor einem ausbreitet – eine ganze Welt, wie ein Teppich vor einem ausgerollt, und wenn man nicht aufpasst, verschwindet man womöglich spurlos im riesigen Netz von Informationen, nach denen man gar nicht gefragt hat.

 

Nicht dass das neu ist, nur überwältigender, verrückter und so entsetzlich einfach wie Fenster öffnen oder Licht anzünden. Ein Handgriff, und alles ist da. Das ist schön, und das ist schrecklich. Wenn man neugierig ist. Wenn man nicht genug kriegen kann. Wenn einem die Disziplin fehlt.

 

Ich gehöre zu jener Sorte Menschen, die bereits in Buchläden und Bibliotheken beinahe verloren sind. Nur Mangel an Geld, Händen und Zimmern rettet unsereins vor dem Wahnsinn. Wo andere Leute nicht ohne Taschentuch, Zigaretten, Handy oder Lippenstift aus dem Haus gehen können, haben Bücherversessene immer mindestens ein Buch mit dabei. In der Regel mehrere. Man weiss ja nie, was alles geschehen kann. Der Lift bleibt stecken, oder der Zug, und die Freundin kommt sowieso immer zu spät.

 

Man hält unsereins für ein bisschen verrückt, und das ist wohl richtig und doch:

Was gibt es Angenehmeres als Leute, die versunken über ihren Büchern hocken, unterwegs in irgendeiner Welt, ganz zufrieden und glücklich und ganz ganz still. Welch ein Glück, wir reden nicht! Wir haben nur die Augen offen, aber nicht den Mund. Wir verschonen unsere Umgebung mit langweiligen Geschichten und sinnlosem Geschwätz. Wenn man uns nur lesen lässt.

 

Aber natürlich weiss man nie, ob zügelloses Lesen Leseratten und Bücherwürmer nicht irgendwann in Büchernarren verwandelt und sich plötzlich einer wie Felix Bartholdy in die Wirklichkeit verirrt. „... da stand er – mit einer Plastiktüte voll von eben gekauften Büchern ... und spuckte innerlich vor sich aus, wenn er an weitere Druckerzeugnisse dachte. ‚Schaut her. Das ist doch Wahnsinn, oder?’ ... ‚Die habe ich alle heute abend gekauft’, schrie Felix Bartholdy. ‚Ich habe sie da drin gekauft.’ Er deutete über die Schulter. ‚Aber kann mir jemand sagen, wo zum Teufel ich die Zeit hernehmen soll, das alles zu lesen?’ Er fing an, Leute am Arm zu packen, wollte sie festhalten. ‚Ich besitze schon über zehntausend Bände. Circa viertausend davon habe ich noch gar nicht gelesen. Gewöhnlich lese ich zwei Bücher pro Woche. Zwei Bücher in der Woche, das macht 104 Bücher pro Jahr. Um viertausend Bände durchzuackern brauche ich ca. 40 Jahre. Ich bin 43 Jahre alt. Wenn ich mit allen Büchern, die ich bereits gekauft habe, fertig bin, werde ich 83 Jahre alt sein. ‚Und nicht genug damit ...’ Ihm wurde schwarz vor Augen ... ‚Und nicht genug damit’, flüsterte Felix Bartholdy ... ‚Ich kaufe neue Bücher. Ich hamstere. Ich raffe zusammen, was mir unter die Augen kommt. Ich bin krank. Ich kaufe mindestens fünfmal so viele Bücher wie ich lese. Meine Regale stehen voller Bücher, die ich niemals öffnen werde. Sie vermehren sich unaufhörlich. Ich kann an keinem Buchladen vorbeigehen. Im Bett lese ich Kataloge, auf dem Klo Kritiken, und meine Tasche ist stets voll von literarischen Zeitschriften. Und ich kann nicht aufhören. Ich kann nicht aufhören! ... Bald werde ich gezwungen sein, 100 Jahre alt zu werden ... Und nicht lange und ich muss 200 werden ...“ (Tor Age Bringsvaerd, Das Frühstück der Langschläferin) Nicht auszudenken, was mit Felix Bartholdy geschehen würde, verschaffte man ihm einen Anschluss ans Internet.

 

Und was macht unsereins? Vielleicht keine zehntausend Bände, viertausend ungelesen, aber auch so noch genug? Und ein Modem? Und unrettbar neugierig? Wenn es um Bücher geht, dann versucht man uns inzwischen ein bisschen unter die Arme zu greifen. Man bietet uns Navigationshilfen an – in Buchform! –, die versprechen uns, zu wissen, was wir wissen und lesen müssen. Natürlich glauben wir ihnen nicht. Wir sind unbelehrbar. Wir wollen nicht die hundert Wichtigsten, wir wollen Tausende und die Unwichtigen dazu! Und was in der Bücherwelt nicht funktioniert, schafft auch das Internet nicht. Zeitsparende Suchstrategien, Filtermöglichkeiten, Meta-Suchmaschinen? Das ist ja schön und gut und freundlich dazu, aber beim erst besten link zweigen wir trotzdem ab. Wir sind nicht therapierbar. Wir können schon, aber wir wollen nicht. Wir stöhnen lieber und raufen uns die Haare und kaufen das nächste Buch. Wir wollen unsere Wohnungen mit Büchern vollstopfen, weil wir Bücher lieben, und wir loben und preisen das Internet, diese Riesenbrust, aus der wir saugen, was wir brauchen, ob Zeitungsartikel, Bilder unserer Lieblingsschauspieler, die Noten eines Schubertliedes, mathematische Gleichungen, wissenschaftliche Informationen, Witze oder Kochrezepte.

 

Spinnen wir? Natürlich. Aber was soll’s. Wir sind alles in allem harmlos. Wir stellen nichts Unerlaubtes an, wir missbrauchen niemanden, wir finden nur alles, was es gibt, furchtbar spannend. Und so frönen wir unbeirrt und bar jeglichen Schuldgefühls einer modernen Form der Völlerei – die macht uns nicht dicker, nur klüger.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ