Schildkrötenträume

 

Manchmal kommt es vor, da wäre man lieber ein Tier, eine Schildkröte vielleicht; auch ein Stein ginge in Ordnung – alles, bloss kein Mensch. Nichts mit Erinnerungsvermögen, mit Gefühlen und Vernunft, mit einem Kopf voller Ideen, Wissen, Zielen und einem Herz, das sich reimt auf Schmerz; nichts, das behängt ist mit Enttäuschungen und Verlusten als wären‘s die Trophäen der Realität.

 

Natürlich trägt auch eine Schildkröte schwer an ihrem schützenden Haus, aber wie beneidenswert ruhig und bedächtig bewegt sie sich damit in der Welt: Fremdenfeindlichkeit ist nicht ihr Problem, der Neoliberalismus braucht sie nicht zu kümmern und auch nicht die drohende Aufhebung der Buchpreisbindung.

 

Natürlich gibt es Leute, die sähen es zu ihrer Bestätigung gerne, das Tierreich wäre organisiert wie ihre eigenes, und die Schildkröten verachteten die Eidechsen und wären begeisterte Anhängerinnen des freien Salatwarenverkehrs oder gebärdeten sich als Verächterinnen jener, die ihren Kopf mehr als nötig ausserhalb des Panzers neugierig hin und her bewegten – braucht eine Schildkröte Neugier? Welt? Kann man das fressen?

 

Nun sind Schildkröten zum Glück keine Menschen und ihr Innenleben, sollten sie eines haben, bleibt uns auf immer verborgen, auch wenn dem Drang vieler Leute, in den hintersten Winkel eines jeden Dinges einzudringen, keine Grenzen gesetzt ist. Aber es braucht der Schildkröte nicht bange zu werden, sie muss einfach ihren Kopf einziehen, ihre Beine, ihr Haus dicht machen und die ewigen Voyeure bleiben draussen. Wie muss das Schildkrötenleben schön sein!

 

„Sehen sie doch nicht alles so negativ“, das sagt einer Schildkröte niemand. Auch eine dumme Kuh kann sie nicht genannt werden, und da sie nicht so ausschaut, als würde sie sich in irgendeiner Form schriftlich und einem grösseren Publikum mitteilen, bleibt ihr auch das Urteil erspart: „Wer anders glaubt, ist schlecht; wer anders denkt, ist dumm.“(Wilhelm Busch)

 

Natürlich hat die Schildkröte auch deshalb keine Probleme, weil sie nichts anderes zu sein braucht als eine Schildkröte. Sie muss kein Adler sein und kein Gepard und auch kein Elefant. Niemand käme auf die Idee, das von ihr zu erwarten. Beneidenswert die Vorstellung, dass es für eine Schildkröte genügt, eine Schildkröte zu sein und sie sich nicht fragen muss: Was ist eine Schildkröte, und wozu ist sie auf der Welt? Was kann ich tun, um die Welt schildkrötengerechter zu machen? Wie überwinde ich das Krötendasein und verbinde mich mit den Kräften des Universums?

 

Niemand beurteilt ihren Gang, ihre Beine, ihren faltigen Hals, verlangt von ihr Eleganz, seidenweiche Schenkel und einen straffen Hals, auch dass sie sich einen vorzüglichen Platz in der Schildkrötenwelt erkriecht und immerzu nach Höherem strebt, legt ihr niemand nahe. Keine fragt sie, ob mit ihr was nicht stimmt, wenn sie dauernd den Kopf einzieht und ob nicht im leichten Nachziehen des rechten Hinterbeines eine nur äusserlich dem Bewegungsapparat zuzurechnende tiefe seelische Kränkung zum Ausdruck kommt.

 

Natürlich ist anzunehmen, dass es auch in der Schildkrötenwelt Probleme gibt: Das Fressen vielleicht, allerlei Gefährdungen und der Tod. Aber man käme an kein Ende, wollte man aufzählen, welche Probleme eine Schildkröte nicht haben kann.

 

Sicher lässt sich mit Recht einwenden, dass eine Schildkröte natürlich auch viel Erfreuliches nicht erfährt, weil ihr nicht nur die Voraussetzungen für mancherlei Probleme fehlen, sondern auch für Glück. Aber es geht hier schliesslich nicht um Tierkunde oder Philosophie, sondern um Wut und Enttäuschung, die einen sporadisch packt, wenn man der Tatsache ins Gesicht sehen muss, dass man nicht zu den Schildkröten gehört, sondern zur Gattung Mensch. Da kann man die Schildkröte schon mal beneiden: bewohnt ihr eigenes Haus, hat eine dicke Haut, kann sich jederzeit zurückziehen, wenn ihr alles zuviel wird oder zu nahe auf den Leib rückt. Sie braucht sich keine dummen Reden anzuhören, wird nicht arbeitslos, muss nicht um die Rente fürchten, kann nachts problemlos alleine draussen sein, braucht kein attraktives Outfit, keine PC-Kenntnisse, keine Weiterbildung.

 

Es ist nicht so, dass man Schildkröten unbedingt mögen muss, um ab und zu eine sein zu wollen. Es gibt ja Leute, die sehen sich eher als Löwinnen oder als Adler, auch Rehe kommen in der Wunschliste vor und Eichhörnchen und Katzen. Abgesehen davon, dass solche Wünsche für alle HobbypsychologInnen zum gefundenen Fressen gehören, also durchaus geschätzt werden, mag man das Ganze durchaus als lächerlich und undenkbar und dumm betrachten. Bloss dummerweise ist gerade die Dummheit mit ein Grund, dass man sich in eine Schildkrötenwelt träumt und sich manchmal wünscht, diesem Planeten wären gnädigerweise die Menschen erspart geblieben.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ