Wer andern keine Grube gräbt ...

 

Irgendwann, vor langer Zeit, wahrscheinlich in den verträumten Zeiten der Kindheit, bin ich mit der Vorstellung gross geworden, die Leute möchten eigentlich gut sein, freundlich, einander wohl wollend. Und dass es ihnen weh tut, wenn es nicht gelingt, dass sie es als Mangel empfinden und sich anstrengen, es besser zu machen.

 

Kinder dürfen sich solche Phantasien erlauben, die Erwachsenen sind gerührt; zwanzig, dreissig Jahre später und noch immer mit derselben Vorstellung geschlagen, wird aus der Rührung ein müdes Lächeln auf der Grenze zur Verachtung. „Nur Kinder und Idioten wundern sich über die Welt“(Christoph Hein) und so fragt man sich denn, ob die Vorstellung aus Kindertagen nicht etwa eine träumerische Sicht auf die Welt war, sondern eine Krankheit – nicht frühzeitig erkannt und nicht ausreichend kuriert.

 

Der Virus der Kinderstubenmoral: Gut sein, der Wahrheit verpflichtet, fair, der Selbstkritik fähig, Gerechtigkeit als Ziel, grossherzig, nicht nur auf den eigenen Vorteil bedacht ... die Richtung ist klar, die Liste lang, nur vernünftiger wird sie nicht. Die Welt, die wirkliche, jene der Tatsachen, nicht der Wünsche, die beginnt, wo die Kinderstube endet. Sie ist keine logische Fortsetzung mit anderen Mitteln, sondern von neuer Qualität. Inkompatibel nennt man das, nüchtern betrachtet.

 

Ein Kind darf hundert Mal am Tag „warum“ fragen und man ist stolz und hält es für klug. Es gibt sich nicht mit dem Augenschein zufrieden, sagt man bewundernd. Es verlangt endlos nach Gründen, will Genauigkeit, gibt nicht auf, ist unzufrieden, traut den Antworten nicht, fragt weiter. Mühelos findet es die Schwachstellen der eignen Argumentation, denn es kennt den Code nicht, den die Erwachsenen beherrschen: sich nicht unnötig mit Fragen belasten, für die es keine befriedigenden Antworten gibt und das halbherzige Sich-Abfinden damit Realitätssinn nennen und Versöhnlichkeit, was nichts weiter ist als schlechtes Gedächtnis, Feigheit und Bequemlichkeit.

 

In der Welt der Erwachsenen gilt: man muss klug sein wie die Schlangen, und Schlangen häuten sich und so streift man das Kind besser ab. Alles andere hindert am Fortkommen und schmälert den Erfolgsquotienten, denn nur Kinder und Idioten wundern sich über die Welt.

 

Erwachsene, die das Virus der Kinderstubenmoral nicht gänzlich auskurierten, bleiben ein Leben lang empfindliche Leute. Es genügt ein Abstimmungsplakat und sie beginnen zu schwitzen. Nicht nur das, was auf dem Plakat steht, macht sie krank, sondern vielmehr noch der Zynismus der Herren Verfasser. Die Jongleure der Angst gehen ihnen an die Nieren und die Tatsachenzurechtbieger und schamlosen Vereinfacher. Und dass sie damit durchkommen, und dass zu viele ihnen recht geben und sie Erfolg haben, und dass „die Wahrheit“ ein Märchen für Kinder ist, weil richtig wird, was funktioniert. Und dass es nicht darum geht, was gerecht ist, sondern von Nutzen, vornehmlich für einen selbst. Und dass das alles völlig normal ist. Und dass, wer anders denkt, dumm ist. Und dass sich über all das zu ereifern nichts nützt, aber ungesund ist.

 

Offensichtlich ist man ein bisschen verrückt, wenn man glaubt, Meinungen und Handlungsgrundlagen würden durch Argumente gebildet und jeder Mann und jede Frau strengten sich an, mit Argumenten zu überzeugen, verpflichtet alleine den Gesetzen der Logik und Aufrichtigkeit. Schön, aber falsch gedacht. Immer und immer wieder stolpert man, trotz Schaden durchaus nicht klug geworden, über die Tatsachen. Nicht nur täuscht man sich wiederholt über den Willen zur Aufrichtigkeit, sondern auch über die Wirksamkeit der Argumente selbst. Man weiss doch eigentlich: Argumente mögen zwar schlüssig den Gesetzen der Logik folgen, in diesem Sinne überzeugend sein, nur nützt das nichts, wenn die Argumentationsbasis, also die fundamentalen Werturteile und Prinzipien, nicht geteilt werden. Ohne eine solche gemeinsame Basis ist es nicht möglich, einander mit Argumenten zu überzeugen, weil man mit jemandem, der unsere Prinzipien bestreitet, nicht diskutieren kann. Man weiss das. Man weiss auch, dass der Faktor Macht mehr als Aufrichtigkeit, die Dinge deutet, organisiert und zur schlagkräftigen Idee poliert. Man kann das wissen. Es dennoch nicht wissen wollen zeugt, sagt man, von einem verhätschelten Denken, denn nur Kinder und Idioten wundern sich über die Welt.

 

Eine trostlose Situation, eine deprimierende für all jene, in denen sich noch immer ein Kind oder ein Idiot aufhält und die glauben wollen, es gehe um Aufklärung und Aufklärung habe mit Klarheit zu tun, mit dem Erhellen eines Sachverhaltes und es seien letztendlich doch alle daran interessiert. Und dann erinnern sie sich, dass sie einmal lernten, nicht zu lügen und man ihnen inzwischen klarmacht, dass man den Menschen, die nicht lügen können, Invalidentrente bezahlen müsste, dass, wer andern keine Grube gräbt, selbst hineinfällt, und man besser daran täte, immer auf Seiten der eigenen Meinung zu sein, denn da ist es schön und bequem und man ist klug und alle andern dumm oder gefährlich, und dann wünschte man sich, dass bei allen, restlos allen, nur für ein paar Stunden, die Bretter sichtbar würden, die sie vor den Köpfen tragen. Und das alles wäre nicht mehr einfach trostlos, sondern nur noch komisch und alle kämen ins Grübeln und würden etwas vorsichtiger und etwas bescheidener und etwas leiser und würden einsehen, dass jeder und jede ein Brett vor dem Kopf trägt, aber dass schlussendlich alles davon abhängt, wie weit es vom Kopf entfernt ist.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ