Nur gute Nachrichten, für einen Tag

 

Meine Mutter wünscht sich, es möge für einmal eine Zeitung erscheinen, in der es nur gute Nachrichten gibt. Bloss für einmal möchte sie ausschliesslich von Dingen lesen, die gelingen, die möglich sind, die Erleichterung verschaffen. Meine Mutter und ich mit ihr wissen, dass dieser Wunsch kindlich ist und wir die Aufgabe haben, erwachsen zu sein. Das ist nicht leicht, keine Frage des Alters und wird einem nicht geschenkt. Es ist alles in allem eine Frage der Ökonomie, des Haushaltens mit den eigenen Erfahrungen, Gedanken, Gefühlen, Wünschen, Wertvorstellungen und Zielen. Manchmal fehlt es an Gefühlen, dann wieder an Erfahrungen, manchmal ist der Vorrat an Wünschen zu gross, manchmal gehen die Ziele aus. Den eigenen Lebens-Haushalt so zu organisieren, dass sich einigermassen zufriedenstellend darin leben lässt, ist harte Arbeit. Das Resultat nennt man Charakter.

 

Sich zu wünschen, dass die Welt einen Tag lang gute Nachrichten liefert – was ja sowieso nicht die Welt tut, sondern jene, die ihr auf die Finger schauen –, zeugt von Charakterschwäche, sagen die Realisten. Wer öffentlich zugibt, keine Tagesschau mehr zu sehen, zu bestimmten Zeiten jedenfalls, zum Beispiel jetzt, gilt als gefühllos – bei all jenen, die der Welt tapfer auch ins hässliche Gesicht schauen, im Kosovo und anderswo.

 

Meine Mutter und ich mit ihr halten uns nicht für gefühllos, aber stehen manchmal sozusagen vor leeren Gestellen. Wir stellen fest: Unsere Vorratshaltung war dürftig, unsere Kontrolle der verbrauchten Gefühle in Bezug auf Ereignisse in Weltformat nicht haushälterisch genug.

 

Vielleicht kann man ja zu Recht anmerken, bei Gefühlen gäbe es keine Vorratshaltung und sie liessen sich nicht aufbrauchen wie Mehl und Zucker und doch bleibt die Frage offen, wie man denn Tag für Tag ausreichend Mitgefühl aufbringen kann für die tausendfältigen Formen des Unrechts, das Menschen erleiden.

 

Täglich sind wir gezwungen, der einen Schmerz abzuwägen gegen den der anderen. Wertungen vorzunehmen, Prioritäten des Interesses, der Aumerksamkeit und des Mitgefühls zu setzen. Täglich sind wir gezwungen, uns zu fragen, was unser Mitgefühl denn eigentlich wert ist und wohin es führt und ob es überhaupt existiert oder nicht vielmehr ein Reflex ist – eingeübt vor dem Fernseher oder irgendeinem Titelbild.

 

Vielleicht einmal pro Jahrzehnt eine, die den Fernseher abstellt, einer, der die Zeitung zusammenfaltet, aufsteht und beschliesst ihr oder sein Leben zu ändern, etwas zu tun, etwas, das etwas bedeutet, etwas, das mehr ist als ein Zusammenzucken und ein paar Scheine in einem Sammeltopf. Der meisten Mitgefühl ist von geringer Konsistenz, es ist zwar da, aber es ist ein flüchtiger Stoff und schnell entwichen. Und doch: Auch wenn man nicht jeden Tag „schrecklich“ sagen kann und „furchtbar“ und „entsetzlich“ und dabei glauben, dass diese Worte ihr Gewicht behalten und tatsächlich meinen, was sie sagen, so ist ein Zusammenzucken immerhin ein Zusammenzucken und ein Geldschein im Sammeltopf wenigstens etwas, angesichts der Litaneien der Ausreden, dass es sowieso nichts nützt und in die falschen Hände gerät und man besser erst hier, vor Ort und überhaupt, man weiss ja nicht, wem am dringendsten und schlussendlich kaufen sie doch Waffen und man täte besser daran ..., nur, was dieses Bessere ist, weiss dann doch niemand so recht zu sagen.

 

Meine Mutter wünscht sich, nur für einen Tag, eine Zeitung mit ausschliesslich guten Nachrichten. Naiv ist sie nicht, meine Mutter, auch nicht romantisch, sie ist keine Verehrerin der Idylle und nicht feige. Noch immer tut sie, was sie kann, um die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass etwas getan werden kann und Veränderungen zum Guten möglich sind.

 

Wenn sie sich für einen Tag nur gute Nachrichten wünscht, dann nicht, weil sie sich eine Dispens wünscht von der Welt, für einen Tag, sondern weil sie weiss, dass man zu wenig von der Welt weiss, wenn man nur von Niederlagen, Misserfolgen und vom Scheitern weiss, dass man zu wenig über Menschen weiss, wenn man weiss, zu welch schrecklichen, eigennützigen, feigen, sorglosen, dummen und barbarischen Dingen sie fähig sind.

 

Gute Nachrichten, Nachrichten, die vom Gelingen handeln, von Lösungen, von Aussicht auf Lösungen, von Hilfreichem, von Überraschungen, von Möglichkeiten, die offenstehen, sie sind sozusagen der Dünger für die Hoffnung, dass sich handeln lohnt, dass sich eine Meinung bilden lohnt, dass sich einmischen lohnt, dass sich zu sorgen lohnt – für und um andere. Ohne solche Wachstumshilfe für die Hoffnung, die immer einen schweren Stand hat auf dem Boden der Realität, ist Mitgefühl nicht viel wert. Nicht viel mehr wert als ein Platzregen, der mit enormer Vehemenz nicht viel bewirkt. Mitgefühl ist kein Instrument und auch nicht die Hand, die es führt. Es ist vielleicht der Grund, weshalb man steht, wo man steht – es ist aber weder Tun, noch Ziel, noch Lösung.

 

Vor dem Fernseher, angesichts von Schmerz und Elend, ist man schnell ein guter Mensch, und man weiss, was nicht sein darf, und man weiss, was sein soll, bloss mit dem wie und dem wer tut man sich schwer. Mitgefühl ist eine schwache Währung und grossen Schwankungen unterworfen, je nachdem, welchen Preis wir zu bezahlen hätten für Grossherzigkeit.

 

Ohne feste Verankerung in einem möglichen Tun, saugt es sich bloss von einem Entsetzen zum nächsten voll.

 

Ein Herz, wie gross auch immer, aber ohne Verstand und ohne Hände, das Verstandene auch zu tun, bleibt zwar am rechten Fleck, aber in seiner Reichweite begrenzt.

 

Denkbar wäre, meine Mutter könnte sich mit einer Zeitung zufriedengeben, in der stünde: Das Herz stieg ihnen zu Kopf.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ