Kein Hirn, keine Probleme

 

Es gibt Sätze, die ziehen andere Sätze an wie Magneten. Man entdeckt einen, und der bleibt hängen, und plötzlich sind da andere, passende, ergänzende, auch widersprechende zum selbigen Thema. "No brain, no pain" ist so ein Satz. Tag für Tag gehe ich an einem Plakat vorbei, das dieses Lebensvereinfachungsprogramm formuliert: Kein Hirn, keine Probleme. Ach ja, das wäre wohl eine Alternative, ab und zu, für einen Tag nur; das Denken ausser Kraft gesetzt und damit all das, was einen zwingt, sich mit dem, was ist, auseinanderzusetzen, es zu ordnen, zu klären, nachzuprüfen oder womöglich zu verstehen. Tag für Tag trägt man uns Tausende von Informationen zu, Tag für Tag hören wir Hunderte von Botschaften, von Befehlen und Urteilen, sagt man uns dies und das und nehmen wir unentwegt Dinge wahr, als hätten wir ganze Welten abonniert. Das müssen wir verarbeiten, sagt man uns. Das muss, wenn es schon in uns hineingelangt, auch wieder irgendwie raus, wenn möglich als eine Art Produkt: Wissen vielleicht, Erkenntnis, Meinung, Handlungshilfe. Es muss in jedem Fall umgewandelt werden in etwas eigenes, einen Bestandteil der eigenen Sicht auf sich selbst, auf die anderen, auf die Welt. Das klingt eigentlich sehr interessant, spannend, abenteuerlich; da ist, scheint es, immer etwas im Gange, wird etwas entdeckt. In der Regel ist es auch interessant und spannend und abenteuerlich; aber es ist gleichzeitig anstrengend und bei allem Schwung, den Denken erzeugt, schaut zuguterletzt in vielen Fällen so viel Unerwartetes und Neues doch nicht heraus. Zu oft verwandelt man bloss Dinge, die neu sind oder so noch nicht gesehen wurden in Dinge, die man schon kennt.

 

Wer denkt, ist qualsüchtig

 

So sagte es einer, der nichts anderes getan hat, als nachzudenken – und sich damit den Boden unter den Füssen zu entziehen. "Denken heisst der Unsicherheit nachlaufen, sich wegen grossartiger Kleinigkeiten aufregen, sich mit der Begierde eines Märtyrers in Abstraktionen einschliessen, auf Komplikationen aus sein, wie andere auf Verlust oder Gewinn. Der Denker ist per definitionem qualsüchtig."(E.M. Cioran)

 

Der Satz "no brain, no pain!", so ironisch verknappt, er stimmte also.

 

Aber da ist dieser andere, beinahe gleichzeitig aufgeschnappte Satz: Philosophieren heisst, sich nicht dumm machen lassen. So formulierte der deutsche Philosoph Max Horckheimer die Arbeit der Philosophie.

 

Sich nicht dumm machen lassen

 

Das klingt so schwer nicht. Nicht von der Wahrheit ist die Rede oder von Erkenntnis, was alles furchtbar kompliziert klingt, wie etwas, wofür einem sowieso die Zeit fehlt, wenn man denn überhaupt einen Sinn darin sehen kann. Sich nicht dumm machen lassen, heisst es, auf der Hut sein, wach, sich nicht manipulieren lassen, Lügen durchschauen und zu einfache Anworten auf zu schwierige Fragen.

 

Sich nicht dumm machen lassen – eine andere Erklärung für den Sinn des Nachdenkens. Was dazu nötig ist: ein Hirn, Misstrauen und nicht zu viel Angst vor den Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, die Nachdenken verursacht. Man kann es auch Offenheit nennen.

 

Sich nicht dumm machen lassen, das verlangt Misstrauen gegen das, was aus Gewohnheit gedacht wird, auch gegen das, was man selbst zu denken gewohnt ist; es verlangt Misstrauen gegen Vorstellungen, Erklärungen und Programme, die sich auf einfache Sätze reduzieren lassen. Einfache Sätze liegen zu gut in der Hand, man kann sie auch werfen.

 

Sich nicht dumm machen lassen heisst auch, nicht ohne Vorbehalt einstimmig singen, denn, "wo alle einstimmig singen, ist der Text ohne Bedeutung." (J.S.Lec)

 

Was uns dabei oft in die Quere kommt, der Dichter Hebbel hat es kurz und klar in seinem Tagebuch formuliert: "Wie wenig ist am Menschen Gehirn; sollte mehr Gehirn an der Menschheit sein? Das meiste träges, dickes Fleisch."

 

Wenig Hirn, viel träges Fleisch

 

Träges, dickes Fleisch, könnte man ergänzen, mit einem Hang zu trägen, sesshaften, faulen Gedanken, die bauen sich mit Vorliebe einen virtuellen Gartenzaun um einen virtuellen Liegestuhl, worin sich das keineswegs virtuelle Ich dösend verlustiert. Und dort ruht es dann, pflegt ungestört seinen inneren Stammtisch oder sein Plauderstündchen, denkt sein Denken als wär's ein Schulterklopfen und lässt die Schubladen blühn, worin es die Welt verstaut und möge Gott verhüten, dass es sich mit irgendetwas beschäftigen müsste, für das es noch keine Schublade verfertigt hat oder das den Raum einer Schublade sprengte. Und überhaupt, in diesem kleinen Schubladenland herrscht der Grundsatz: "Wer in der Schublade keinen Platz hat, der sorge für einen Sarg." (J.S.Lec)

 

Wer denkt, langweilt sich nicht

 

Wer denkt, ist qualsüchtig, so ganz unrecht hat Cioran nicht. Lustig ist es jedenfalls nicht, aber auch langweilig ist es nicht. Und da sich niemand gerne langweilt, könnte ja auch gedacht werden, zur Abwechslung. Man könnte den virtuellen Liegestuhl zusammenklappen und an den Rand des virtuellen Gartenzauns gehen und tapfer darüberschauen und sich daran erinnern, dass man noch genug lang tot sein wird und das Leben jetzt stattfindet, auch ausserhalb des schützenden Zauns. Denken ist dabei kein Luxus, sich nicht dumm machen lassen eine Art Dauerauftrag, der nicht an den Kopf allein ergeht: "Zum Denken benötigt man ein Hirn, vom Menschen ganz zu schweigen.(J.S.Lec)

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ