O du fröhliche ...

 

... o du selige Weihnachtszeit: Alles wie immer ? schön wie immer, und verrückt wie immer. "Scheinheilig" heisst es in der Gasseziitig vom Dezember. Scheinbar heilig, aber das alte Lied hat ja längst einen neuen Text und führt uns mit kinderseligen Klängen durch die o so fröhliche, selige Einkaufszeit. Der halbe Sternenhimmel hängt jetzt in den Schaufenstern, den Bäumen, an Balkonen und Zimmerfenstern; ein bisschen zu schön das Ganze, um wahr zu sein, aber das ist doch eigentlich wurscht oder Rollschinkli oder was auch immer. Und eigentlich mag auch gar niemand mehr das alljährliche Herumgemäckel hören am weihnächtlichen Zuckerguss über Dinge, deren Inhalt längst ausgelaufen ist. Das wissen wir alle schon, und schön ist es doch trotzdem, das Gefunkel und die Weihnachtsoratorien und die polierte Fassade und die Vorfreude und überhaupt die ganzen köstlichen Zutaten zum Fest.

 

Noch schöner wäre das alles, und sicher eine ganz und gar unverdiente Zugabe, ein Licht ginge auch uns auf, darüber beispielsweise, was das alles soll, was da vor sich geht. Aber dann würde es plötzlich furchtbar ernst und düster und nicht zum Aushalten tiefsinnig. Dabei hat doch Weihnachten einen Hang zur Leichtigkeit ? schliesslich geht es bei diesem Fest um einen Anfang, und um alles, was auch möglich wäre. Etwas Heiteres hat sie an sich, etwas mit Staunen und Aussichten und Zukunft und offenen Horizonten. Das Gegenteil von dem, womit man unsere Angst füttert vor dem, was kommt.

 

Manchmal kriecht sie trotzdem hoch, die Wut, zwischen den Sternen und Kerzen und Tannzweigen beginnt sie zu glühen, und unter dem weihnächtlichen Make-up platzen die Pickel und kommen sie hervor die rauen und blutig gekratzten Stellen, und das Fröhliche und Selige bleibt im Hals stecken. Das ist nicht schön, aber mit Schönheit haben die Tatsachen nichts zu tun, das kümmert die nicht, und wenn man's genau nimmt, spielt ja Weihnachten sowieso nicht in der guten Stube bei Lachs und Filet, sondern in einem stinkenden Stall.

 

Aber das ist ja eine uralte Geschichte und wer weiss, ob wir solche Geschichten mit ins nächste Jahrtausend nehmen werden. Weil im nächsten Jahrtausend sowieso alles ganz anders sein wird, sogar wir.

 

Der "Mensch" wird vermutlich im neuen Jahrtausend neu erfunden werden, heisst es in einem Artikel über Erfahrungsbeschleunigung. Wie wunderbar! Nichts dagegen, überhaupt nichts! Was immer die neu erfinden wollen, mir ist es recht, wenn der "Mensch" dann keiner mehr ist, der einem 8-jährigen Knaben mit sieben kurzen Hammerschlägen den Schädel zertrümmert, in nicht mehr als 10 Sekunden, und dazu Gottverdammte Scheisse brüllt, weil ihm das Hirn des Jungen die Uniform beschmutzt.

 

Aber wahrscheinlich haben die mit Neuerfindung andere Dinge im Visier als ich mir wünschen würde, und offensichtlich ist die Fähigkeit, problemlos Menschen aus der Welt zu schaffen, eine zu erfreuliche Tätigkeit, als dass sie sich so leicht wegerfinden liesse: "'Wie fühlt man sich, wenn man einem Menschen die Kehle durchschneidet?' Die Antwort kommt spontan: 'Wunderbar'" (Zeit-Dossier, Die Gräuel der Frenkie Boys, 2. Dez. 1999).

 

Gibt es Leute, die das absolut nicht verstehen wollen? Das müssen Feiglinge sein, Schöngeister, Weichzeichnerinnen, Berufshumanisten, die ums Verrecken nicht einsehen wollen, dass ein solcher Schlächter in jedem Menschen sitzt und sich bei Gelegenheit nicht ungern hervortut. Nur dumme Gutmenschen, wie beispielsweise auch unser herziges Christkindlein, wollen nicht glauben, dass der Mensch nichts als ein vernünftiger Egoist ist, der konsequent nur seine eigenen Interessen verfolgt. Und wer das nicht glaubt, der und die hat in der Realität nichts verloren und in der neuen Zeit schon gar nicht.

 

Aber vielleicht ist das sowieso egal, weil der Mensch ja neu erfunden wird und wir alle die Chance haben, ja wahrscheinlich nicht alle, aber, was soll's, wir jedenfalls neu erfunden werden, denn wir werden uns in Zukunft mit Maschinen kreuzen lassen können, lautet die neue Frohbotschaft. Wir können dann unsere Organe und unseren Geist mit nichtbiologischer Intelligenz aufrüsten und vervollkommnen. Kleinstcomputer von der Grösse einer Zelle werden unsere Gehirnfunktionen verbessern. Und das wird nötig sein, heisst es, denn die Fähigkeiten eines Durchschnittsmenschen werden nicht mehr ausreichen, um die Aufgaben, die ihm gestellt werden, zu erfüllen. Wer am Wirtschaftsleben teilnehmen will, wird sein Gehirn mit künstlicher Intelligenz aufrüsten müssen (Ray Kurzweil).

 

Das klingt alles furchtbar faszinierend und optimistisch und die Computerwissenschaftler, die an dieser Zukunft arbeiten, haben schon manch Bewundernswertes geleistet. Aber ich stelle mir mein Leben trotzdem noch immer lieber ganz altmodisch vor und rede ganz altmodisch davon und sage Körper und Herz und Seele und Verstand, auch wenn man mir die Software- und Hardwarelogik beibringen will und ausmalt, dass mein Hirn auch nicht viel anders funktioniert als ein Computerprogramm und sich vielleicht dereinst wird defragmentieren oder neuinstallieren lassen. Und wenn der Tod, wie man mir sagt, eigentlich ein Zusammenbruch der Hardware ist und sich auch hier einiges verhindern liesse, bleibe ich hartnäckig bei dem, was mir lieb ist ? den alten Geschichten vom Menschen und wie er und sie sein könnte: nicht diese technisch aufgerüstete Maschine auf der Grundlage von Bioware, sondern ein mit "Genauigkeit und Seele" (Robert Musil) ausgerüstetes, sich um Gerechtigkeit bemühendes und ein des Mitleids fähiges Wesen. Und wenn es denn um die Neuerfindung des Menschen geht, so ist mir der Stall allemal lieber als das Labor, scheinen mir Ochs und Esel unverdächtiger als unsereins und halte ich die Geschichte von jenem weihnächtlichen Kind, das die bessere Seite unserer Möglichkeiten verkörpert, für gescheiter und hilfreicher als die computergestützte Aufrüstung unserer Intelligenz.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ