Wem gehört die Zukunft?

 

Wer wissen will, wem die Zukunft gehört, muss nur ab und zu die rosafarbene Beilage von Tages-Anzeiger und Sonntagszeitung mit Namen "Alpha. Der Kadermarkt der Schweiz" lesen. Die Zukunft, lernt man hier, stellt nur eine beschränkte Anzahl von Plätzen zur Verfügung; sie sind teuer, und man muss sie unbedingt frühzeitig reservieren. Wer es verpasst, sich darum zu bemühen, na ja, die Zukunft findet dann halt leider, sorry, ohne die Betreffenden statt.

 

Wer sich für die Zukunft interessiert und gewillt ist, sich Eingang zu verschaffen, muss zuerst ein paar fundamentale Zugangskriterien erfüllen; nicht alle, die anstehen, kommen auch hinein, sonst wäre das alles ja furchtbar langweilig, so ohne Wettbewerb und Drängeln und Triumph, es geschafft zu haben. So stehen vor der Zukunft denn zukunftskompetente Sortierer, die scheiden, ohne zu zögern, die Zukunftsfähigen von den ZukunftsversagerInnen. Eintrittsbillette gibt es, das ist logisch, nur für die Zukunftstauglichen, alles andere wäre unwirtschaftlich gedacht. Und, wer unwirtschaftlich denkt, denkt wahrscheinlich gar nicht, würde so ein Zukunftsbescheidwisser sagen: Er und sie träumen bloss, lesen die Zeichen der Zeit falsch, meinen vielleicht, es werde in besagter Zukunft zwar alles etwas schwieriger, ungewisser, nebulöser, es müsse vieles neu bedacht, ausgehandelt und zum Nutzen möglichst vieler verändert werden – aber ein Bescheidwisser nennt so etwas knapp Schönwetterdenken, die "Zeichen der Zeit" aber, sie "stehen auf Sturm" (Tom Peters, Wem gehört die Zukunft, Alpha 6./7.Nov. 1999).

 

Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Manch eine wird dabei weggeblasen, nicht wenige, die gehen unter, aber das gehört nun mal zum Sturm, dass er zerstört. Das ist jedoch nicht alles. Es stürmt nicht nur das bislang Gewohnte weg, auch das Leben wird auf Trab gebracht und muss rennen, wie in Alpha geschrieben steht.

 

Wieso Leben rennen heisst, wird nicht weiter erklärt. Es muss wohl etwas mit notwendiger Beweglichkeit zu tun haben, mit verschärftem Tempo, Konkurrenz, Trainingsbereitschaft, Zielgerade, Sieg und viel Applaus; dass die SiegerInnen nicht nur mit Champagner gesalbt, sondern auch mit Geld gesegnet werden, könnte vielleicht auch eine Rolle spielen. Das Leben ist rennen, folgert man, weil's ums Siegen geht und die vorderen Plätze naturgemäss rar sind. Wer für dieses Lebensrennen aus irgendwelchen Gründen nicht taugt – ja vielleicht gibt's dann auch für diese Fälle irgendwann einmal irgendeine Lösung, aber darum geht es:

 

a) nicht

und

b) auch nicht.

 

"Arbeit wird in den nächsten zehn Jahren neu erfunden werden." Toll! Nicht gewisse Arbeitsbereiche, nicht in den nächsten Jahren, nein Arbeit und in den nächsten zehn Jahren. Wer sie erfindet, davon steht nichts. Aber sie muss neu erfunden werden, das ist klar, wegen Globalisierung, IT-Technologien und Electronic Commerce. Wer das nicht versteht, lerne zuerst richtig Englisch und dann, als nächstes, mache er oder sie sich auf die Socken, damit er oder sie der Job-Opportunities teilhaftig werde, die "coole IT-Abenteurer" im "IT-Umfeld" erwarten. "Vorwärts kommen ... es gibt genug, die stehen bleiben!", lautet die Devise. Flexibel bleiben! Es ist die zentrale Zulassungsbedingung für die Mangelware Zukunft. "Bleib in Bewegung, geh' keine Bindungen ein und bring' keine Opfer", so hat es der amerikanische Soziologe Richard Sennett auf den Punkt gebracht. "Die grosse Mehrheit der heutigen Arbeitskräfte ist in Bürojobs tätig. 90% dieser Arbeitsplätze werden in den nächsten zehn Jahren verschwinden oder total umfunktioniert."

 

Was für eine schöne neue Welt! Alles wird anders, neu, wird umgestellt und modernisiert, das muss uns doch gefallen! Es ist wie bei einem Umzug, alles kann man nicht mitnehmen, man muss aussortieren und wegwerfen, einiges neu erwerben. Vieles ist ja aus Gewohnheit da und es geht auch ohne. Bloss dass wir keine Möbel sind und uns die Tatsache, dass wir aus 90% Untauglichkeit und Veränderungsbedarf bestehen sollen, wütend machen müsste; aber die meisten sind ja so verständig und bezahlen den Preis, den der Fortschritt nun mal kostet – eine Alternative, sagt man, ist ja nicht in Sicht und so gilt weiterhin der Grundsatz: "Wer überleben will, muss sich neu orientieren und positionieren." (Alpha)

 

Aber auch das reicht nicht, denn genügend Arbeitsplätze für neu orientierte und positionierte Leute wird es nicht geben. Gefragt sind im Zeichen der IT-und IS-Revolution (Information Technology und Information System) ausschliesslich helle Köpfe, nichts Durchschnittliches, nichts wie die Mehrzahl von uns.  "Persönlichkeit und Individualität werden zur Marke. Machen Sie aus sich eine unverwechselbare Persönlichkeit! Setzen Sie Kontraste, heben Sie sich von der Masse ab ... Managen Sie sich selbst, Sie sind der CEO ihres Lebens! Konnte man früher unbehelligt ein Schattendasein führen, muss man sich heute positionieren und verkaufen." (Alpha)

 

Neben hellen Köpfen braucht es, auf Unternehmerseite, auch gute Projekte und gute Projekte sind "'WOW-Projekte'. Mit diesen lassen sich Berge versetzen. Mittelmässigkeit ist der Hauptfeind des Erfolges. Wir befinden uns in einem Zeitalter, wo mittelmässige Erfolge fehl am Platz sind." (Alpha) [Wow heisst übersetzt: Toll! Wahnsinn! ein Bombenerfolg! oder Mordsspass!] Die Zukunft gehört, das wissen wir jetzt, den bergeversetzenden hellen Köpfen jenseits allen Mittelmasses. Sie führen kein ruhiges Leben im Schatten, sondern wissen ihr "intellektuelles Kapital" gewinnbringend zu nutzen und klug zu verkaufen. Damit ist klar: Die Zukunft wird nur spärlich bevölkert sein! Was mit all jenen unter uns geschieht, die es nicht vermögen, sich zukunftstauglich aufzurüsten? Diese Frage zu beantworten, bleibt uns selber überlassen, denn die anderen sind ja schon unterwegs, befreit und frisch "TOWARD WOW!"

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ