Man kann sich auch zu nahe treten

 

Menschen sind neugierig. Das ehrt sie. Für einmal eine Tugend ohne Tücke: offen, der Welt zugewandt, beweglich, mutig und mit unstillbarem Appetit auf mehr – mehr Wissen, Erfahrung, Einsicht. Die Neugier holt Welten ein wie ein Netz; was sich darin verfängt, bleibt im Voraus ungewiss und bedarf nachträglicher Sortierungskunst: Brauchbares, Notwendiges, Schönes, Erfreuliches muss herausgeklaubt werden aus einer grossen Menge Überflüssigem. Neugierig sein ist keine Kunst; das Eingeholte sinnvoll ordnen hingegen schon. Und: Sinnvoll ordnen kann nur, wer "geklärte Kriterien besitzt, begriffliche Raster, präzise Fragen, kultivierte Zweifel"(Ludwig Hasler).

 

Das Netz auswerfen braucht Schwung, das Netz einholen Kraft, das Sortieren Geschick und Verstand. Letzteres scheint das Schwierigste zu sein. Es braucht einen sicheren Stand dafür – aber alles ist in Bewegung, auch man selbst. Die Zukunft gehört den Beweglichen, nicht den Standfesten; dazu muss man auch mal seine Kriterien anpassen können und seine präzisen Fragen vergessen. Fragen etwa, die nicht wissen wollen, wie das Getriebe besser, schneller und gewinnträchtiger läuft, sondern was eigentlich der Sinn dieser ganzen Maschinerie ist und was wir denn eigentlich wirklich wollen. Geklärte Kriterien, präzise Fragen, begriffliche Raster und kultivierte Zweifel sind Sand, nicht Öl in diesem Getriebe – das eigene eingeschlossen. "Jeden Tag neue Einfälle, und unsere Launen bewegen sich an den Flügeln der Zeit", notierte Montaigne ein paar Jahrhunderte zuvor und beschrieb damit auch unsere flatterhafte Leichtigkeit.

 

Die Neugier ist eine Sammlerin. Sie bringt alle möglichen Dinge her, zum Beispiel eine Information wie diese: Ein Mann stellt in der Fernsehserie Galileo mit dem schönen Untertitel "Sehen – Staunen – Verstehen" ein Mini-U-Boot vor; es ist gerade mal 4 Millimeter lang und hat einen Durchmesser von 0,6 Millimetern. Es soll in Zukunft dazu dienen, das Körperinnere zu erkunden, gewonnene Informationen weiterzuleiten und Reparaturarbeiten vorzunehmen, indem es etwa Medikamente gezielt an bestimmte Stellen bringt, Blutgerinnsel auflöst oder Kalkablagerungen wegkratzt. Keine gefährlichen Operationen mehr, eine U-Boot-Injektion per Spritze in die Blutbahn, ein Computer, der es lenkt, und ein Bildschirm, der zeigt, wohin. Bislang gab es das bloss in Science Fiction-Filmen. Der kultivierte Zweifel sagt hier nicht viel, er staunt, und auch eine präzise Frage will sich nicht einstellen (höchstens die zögerliche und selbstzweiflerische Frage, woran wir denn noch sollen sterben können, müssen oder dürfen, wenn mit dieser Technik die bislang grössten Sterberisiken drastisch gesenkt werden). Was das geklärte Kriterium hier ist – vermindert diese Mikrotechnik im Medizinbereich Leiden, ist sie allen zugänglich, auf wessen Kosten geht eine solche Entwicklung etc.? – ist so schwer zu beantworten, wie beinahe eine jede Frage im Bereich medizinischer oder biotechnologischer Entwicklungen.

 

Der kultivierte Zweifel zweifelt leichter bei jener anderen Körperinspektion mit dem Titel "Körperwelten", zu der man unsere unersättliche Neugier nach Basel lädt. Wir dürfen hier sozusagen unter die Hautdecke schauen und sehen und staunen, mit wem wir unser Körperhaus teilen. Noch das kleinste Knöchelchen wird uns vorgestellt, von dessen Existenz wir bisher nichts ahnten.

 

Müssen wir uns also mit ihm bekanntmachen wie mit einem Hausbewohner? Ist das der Sinn des Ganzen? Freundschaft schliessen mit Knochen und Sehnen und Gedärmen und Hautlappen? Gehen wir weg von Basel mit mehr Respekt vor dem Alltagswunder, das der Körper ist? Oder gehen wir mit weniger heim – weniger Geheimnis, weniger Dunkel, aber auch geringerer Fähigkeit zum Abstand und zur Diskretion? Das Eigenartige ist nicht, dass uns interessiert, was in der Regel unbeachtet unter unserer Haut sein Leben lebt. Das Eigenartige ist, dass es das künstlich Natürliche ist, das lockt – die Leiche, die doch keine ist und die Toten ohne den Tod. Wäre das alles aus Kunststoff, der Besucherstrom wäre geringer. Die Faszination lebt von der Doppeldeutigkeit, vom gefahrlosen Erschrecken und vom Frösteln ohne Furcht: Das ist ja alles echt, eines andern Knochen und Fleisch und ist doch zugleich Kunst- und Anschauungsobjekt.

 

Was sich Körperwelten nennt ist zwar eine Leichenschau, aber nicht im Gewand des Trauerrituals, sondern der Lehrveranstaltung. Der Wunsch, die Toten mögen in Frieden ruhen, wird ersetzt durch den Wunsch (der Toten selbst), in alle Ewigkeit Reisende in eigener Sache zu sein und für uns ihr Fleisch zu Markte zu tragen. Was ist damit gewonnen?

 

Mag sein, es gibt hierzu keine eindeutigen Antworten, nur individuelle Launen, gepaart mit Neugier und Wissensdrang. Der Zweifel, ob kultiviert oder nicht, denkt sich dabei: Man kann sich auch zu nahe treten.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ