„Unser Volk“ ... oder das Herz auf dem rechten Fleck

 

Es gibt Zeiten, da wundert man sich nur noch. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob man eigentlich geschlafen hat die ganze Zeit oder kurzzeitig in einer anderen Welt war, nur um plötzlich zu merken, dass man, beinahe wie nach einer Reise, Dinge sieht, die einem vorher nicht aufgefallen sind. Man war aber immer da, man hat nicht geschlafen und trotzdem nichts gemerkt, und nun stolpert man auf Schritt und Tritt über etwas eigentlich Altvertrautes, das dennoch wie ein Findling wirkt – irritierend und unheimlich: ein Findling mit Namen „das Volk“.

 

Und man lernt: Es gibt jetzt wieder ein Volk. Es gab es natürlich immer schon. Schliesslich leben wir in einer Demokratie. Aber vielleicht hat man ja nie so genau hingehört und dabei immer „Schweiz“ gedacht oder „in unserem Land“ oder „Schweizerinnen und Schweizer“ oder „Nationalstaat“ oder ähnliches, und es war dabei immer auch die Rede von „dem Volk“, aber man hat es sofort übersetzt, weil es einem in diesem Jahrhundert immer ein paar Schauer über den Rücken jagt „das Volk“, und nun plötzlich ist nicht mehr nur am Rande die Rede davon, eingebettet in manch anderes, ins Schweizervolk etwa oder ins Abstimmungsvolk oder in den Volkssport, worin auch immer, sozusagen eine der vielfältigen sprachlichen Nebenrollen spielend, sondern plötzlich hat man ihm die Hauptrolle gegeben und es steht mitten auf der Bühne und man sagt los los, jetzt bist du an der Reihe. Es wird gespielt, wo bleibt dein Text?

 

Vielleicht wollte „das Volk“ ja schon immer gerne die Hauptrolle spielen, und es fehlte einfach am rechten Stück und am rechten Regisseur, und das hat sich jetzt alles gefunden. Was weiss eine schon, die nicht mal weiss, wer denn dieses Volk ist, das da plötzlich in der Bühnenmitte auftaucht und einen Text aufsagt, den man ihm souffliert. Oder, wie es heisst, ihm zuerst vom Maul abgelesen hat und dann zu einem Stück verfasst und nun wieder als Sprechrolle zurückgegeben hat.

 

Das Volk, soviel weiss ich, kann sprechen, es hat einen Willen, einen Körper und sogar eine Seele, manchmal auch einen Zorn, aber einen gesunden.

 

Das Volk will etwas, und es will es sofort. Aber dann will es auch ganz viele Dinge nicht oder nicht mehr. Es hat genug, es haut auf den Tisch und sagt: „So nicht mit uns, nicht mehr! “ Im Nein sagen erkennen wir das Volk am besten. So jedenfalls erzählen es uns die eingeweihten Deuter. Interessant ist, dass es dieses Wort nicht gibt, das Wort Volksdeuter, nicht in unserem vertrauten Vokabular, das noch kein Volkabular ist. Das zumindest nicht. Volkskundler, die gibt es, aber das sind andere, das sind Beobachter, keine Übersetzer und Sprachrohre. Volksdeuter hingegen, das sind Leute, die wissen, wer das Volk ist und was es will. Offenkundig gehören sie selber nicht dazu, denn sie sagen nicht wir, sondern „unser Volk“. Es ist mit dem Volk also auch so: Es gibt Leute, denen gehört das Volk, so dass sie sagen können: Unser Volk will dies und unser Volk will das. Die Frage ist, wer sind diese Leute, die nicht zu unserem Volk gehören, aber wissen, wer das Volk ist und es unter ihre Fittiche nehmen? Fremde können es keine sein, weil „unser Volk“ immer mal wieder Mühe bekundet mit Fremden, also müssen sie in irgendeiner Form schon auch zu „unserem Volk“ gehören, aber ich stelle mir das so vor: Das Volk ist ein bisschen langsam, vielleicht auch ein bisschen schüchtern, es kann sich nicht so recht ausdrücken und deshalb braucht es sozusagen einen oder mehrere Patrons, die das an seiner Stelle übernehmen.

 

Das Volk kann zwar nicht laut und deutlich genug und vor allem, es kann nicht selber sprechen, sodass ihm das andere abnehmen müssen, aber es ist offensichtlich ein Subjekt, denn es gehören zu ihm, wie gesagt wird, ein Volkswille, eine Volksseele, eine Volksmeinung, manchmal ein Volkszorn, ein gesunder, und auch Volksrechte. Man könnte beinahe glauben, es handle sich hier um etwas Menschliches, aber dazu fehlt ihm doch einiges, denn es besitzt, glaubt man dem Volks-Vokabular, keinen Volksverstand, kein Volksgewissen, keine Volksliebe, kein Volksherz. Das ist interessant, dass gerade das zu fehlen scheint. So ist es denn kein Volksganzes, zum Glück, muss man sagen, wenn man ein Gedächtnis hat und weiss, was der gesunde Volkskörper alles an Krankem birgt.

 

Aber alles in allem lebt „das Volk“ ja ausgesprochen zurückgezogen. Ich habe es auf alle Fälle noch nie angetroffen, und so kenne ich es denn imgrunde nur vom Hörensagen, und ich muss zugeben, ich würde ihm auch nicht gerne alleine begegnen, nicht nachts auf der Strasse. Es scheint, wie man hört, einen Hang zum Groben zu haben. Jedenfalls gibt es Leute, die fürchten es. Nicht die, die seine Fürsprecher sind, die kennen es ja und wissen es zu nehmen, so dass es zwar einen jeden anbellt, aber zumindest seine Patrons nicht beisst, nein fürchten tun es die, die mit „dem Volk“ nicht so ganz warm werden und wissen, dass sie sich kein anderes auswählen können, vielmehr selbst zur Wahl stehen. Da müssen halt alle über ihren Schatten springen und auf die rechte Seite gehen, damit ihnen das Volk nicht davonläuft.

 

Also, wenn ich es mir recht überlege, so muss ich sagen, dieses Volk wäre mir, würde ich ihm tatsächlich einmal auf der Strasse begegnen, nicht recht sympathisch: zu unselbständig, zu unfreundlich, zu gutgläubig, zu leicht zu gängeln und auch zu grob.

 

Glücklicherweise gibt es „das Volk“ nicht, oder höchstens als Erfindung jener, die die Kunst beherrschen, aus ihren Interessen sich eines zu kneten: mit ihrem Willen, ihrem gesunden Zorn und einem Herzen auf ihrem rechten Fleck.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1999 / Kolumne NLZ