Einmal im Jahr an Unmögliches glauben

 

Wie beginnt man ein neues Jahr? Wenn es denn "neu" sein soll, was ja nirgends funktioniert, ausser in Tagträumen. Neu wäre es, könnte man das alte zuklappen und weglegen wie eine volle Agenda. So tun, als ob man ein neues Buch öffnete, eine weisse Seite aufschlüge und alles wäre möglich. Wider besseres Wissen besitzt für einige von uns Neujahr ein wenig von dieser Magie der Anfänge.

 

Man kann es auch so sagen: Zu Beginn eines Jahres schärft sich, für kurze Zeit, unser Möglichkeitssinn; der Wirklichkeitssinn, immer nüchtern, realistisch, pragmatisch, wird für einmal ausser Kraft gesetzt und überlange Listen werden erstellt, Listen voller Möglichkeiten, Wünschen, Plänen, völlig überrissen die meisten, träumerisch zusammengestellt, unsinnig manche, nie und nimmer einlösbar. Würden wir davon erzählen, wir ernteten Kopfschütteln über so viel Naivität; als ob ein neues Jahr etwas bedeutete, etwas Neues, ein Anfang von etwas Neuem. Es gilt als ausgemacht, dass wir all dieses Reden von Plänen, Wünschen und Vorsätzen fürs neue Jahr nicht ernst meinen, dass wir damit kokettieren, wie mit allem, das wir uns zwar wünschen, niemals aber den ersten Schritt machen, um es tatsächlich zu verwirklichen.

 

Naiv – ein Wort für das Unerwachsene, für das Leben mit grossen Augen, grossen Herzen und rosaroten Träumen. Nichts fürs wirkliche Leben, das das rosarote Träumen Lügen straft. "Werden wie die Kinder", es hat etwas von diesem biblischen Bild, das oft gehört, aber nie ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Naivität wird in einer Welt, in der "die Realität" der Hammer ist, mit dem man die Träumenden den Träumen entwöhnt, zu einem kindlich-luftigen Ding, zu etwas, das zu wenig Bodenhaftung besitzt, um ernstgenommen zu werden. Schade, verdreht sie der nüchternen Welt der Zahl und des Zählbaren nicht ab und zu den Kopf mit ihrem Überschuss an Träumen und Lebendigkeit.

 

Das "Neu"-Jahr ist ein Hirngespinst, wenn es nicht eine Zahl meint, sondern ein Geschehen. Im Hirn zusammengesponnen, bar jeder äusseren Anhaltspunkte. Aber ein Hirngespinst mit Tradition. Der Übergang ins neue Jahr ist von alters her mit Bedeutung aufgeladen, galt früher als Geisterzeit, in der verschiedene Gefahren drohen, die man etwa durch Peitschenknallen oder Durchräuchern des Hauses abzuwehren suchte. Man glaubte, das ganze Jahr würde so werden wie diese eine Nacht. So steht es im Handbuch des Aberglaubens, was gleichzeitig klarmacht, wohin solcher Glaube gehört: ins Jenseits der Vernunft, die offensichtlich in Umbruchzeiten, wie der Jahreswechsel eine ist, nicht ganz auf der Höhe ist.

 

Eine Vernunft, die nicht auf der Höhe ist, macht meist Angst. Alltagssprachlich verbindet sich Vernunft mit Ordnung, mit Disziplinierung von Gefühl, mit Zielorientierung und Abwägen von Zwecken und Mitteln. Sie erhält so oft die Züge einer Gouvernante, wird humorlos und streng, auf eine Erziehung bedacht, die in die Welt führt, wie sie wirklich ist und nicht, wie wir sie uns wünschten. In eine Welt, die nach Regeln funktioniert, die wir nur bedingt durchschauen, meist nur bedingt hinnehmen und mit allerlei Träumen durchkreuzen möchten. Mit Naivität eben, die man uns um die Ohren schlägt als wäre es etwas Obszönes.

 

Veränderungsträume fürs eigene Leben, das geht noch an, Veränderungsträume für "die Welt", das ist etwas für RomantikerInnen oder Lebensmüde. Natürlich wird Tag für Tag an der Veränderung der Welt gearbeitet, zu unserem Wohle, wie es routiniert verheissen wird, Konzernleiter tun es für uns, Wissenschaftler, Technikerinnen, Politiker, Generäle, Glaubenshüter aller Art. Und sollte es nicht das sein, was wir gemeint haben mit Veränderung, so gehören wir zu jenen, die nicht aufgepasst haben, als man es uns erklärte oder einfach zu dumm sind, um es zu verstehen.

 

Sogar ein neues Wort hat man geschaffen für jene Leute, die mit Veränderung nicht einfach Gentechnologie meinten und weltweite Vernetzung und globalisierte Kapitalströme und schneller Züge und Handys für eine jede Hand und Waren bis die Gestelle bersten und Spass rund um die Uhr und das Geld noch dazu, ein eigentlich schönes Wort, das voller Verachtung verwendet wird: Gutmenschen heisst es. Definiert wird es nicht, sein Gebrauch macht alles klar: Gutmenschen sind Menschen, die gutmeinend sind, also Dummköpfe. Es sind Menschen, die noch am Primat der Ökologie vor der Ökonomie festhalten, die Menschenrechte vor Wirtschaftsbeziehungen setzen, die Fremde nicht als Bedrohung sehen und die das eigene Wohl nicht unabhängig vom Wohl anderer sehen können. Solche Menschen gelten zunehmend als die Frömmler der säkularen Welt, als naive GerechtigkeitsphantastInnen und Naturbeschwörer und Würdefaslerinnen und Fortschrittsverängstigte, als Leute, die keine Ahnung haben, wie die Welt wirklich funktioniert und was sie im Innersten zusammenhält. Es sind die programmierten VerliererInnen auf dem Pannenstreifen der Realität.

 

Natürlich führt man mit Naivität keinen Betrieb, macht man keine gute Politik, setzt man keine Ideale in Praxis um, aber ohne das bisschen Naivität, das noch immer, gegen besseres Wissen, den grossen Horizont des Wünschbaren absteckt, an Träumen festhält, die längst als Unrealisierbar archiviert wurden, wird diese vielgepriesene Realität für die Mehrheit der Menschen zum Alptraum. Einmal im Jahr an Unmögliches glauben, wieso nicht? Gutmensch für ein gutes Wort halten, trotz der Verachtung, die daran hängt wie Spucke? Das hat nichts mit Masochismus zu tun, eher mit dem Ernst von Träumen, von denen man sich nicht verabschiedet, ohne sich von sich selbst zu verabschieden.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ