Amerika ist überall

 

In Amerika gibt es keine Politik, nur Wahlen. Amerika aber ist überall. Und doch färbt es die Dinge noch zusätzlich ein, wie Lebensmittelfarbstoff, ohne dass man es merkt. Erst wenn allergische Reaktionen auftreten, entziffert man es im Kleingedruckten.

 

Die meisten von uns kommen aber ohne grosse Probleme damit zu Rande – abgesehen davon, dass es kaum mehr Ränder gibt, im Zeitalter der Globalisierung. Obwohl beispielsweise noch 1940 ein Mann namens E.L.Venter ein Buch vorlegte mit dem Titel "100 Beweise, dass die Erde keine 'Kugel' ist." Er war nicht der einzige seiner Art. Zetetik heisst jene Pseudowissenschaft, die die Ansicht vertritt, die Erde sei in Wirklichkeit flach. "Flat-Earthers" nennt man etwas geringschätzig ihre Anhänger, und zu jener widerspenstigen Spezies gehört wohl auch jene Bewegung, die sich 1969 hartnäckig weigerte, an die amerikanische Mondlandung zu glauben. Sie war der Auffassung, die Mondlandung sei ein genial aufgezogener Schwindel zum dem Zwecke, die UdSSR einzuschüchtern und zudem Stimmen im Kongress für die weitere unbegrenzte Finanzierung der NASA zu sichern. Das nennt man unabhängiges Denken!

 

Im Glauben, die Erde sei rund, wurde Amerika entdeckt. Seither führt nicht nur kein Seeweg daran vorbei. Wo man auch hinkommt, es ist schon da oder wird es bald sein – ein Turnschuh genügt oder eine Flasche Coke und das Revier ist markiert. Dank Kugelform der Erde kippt nichts über den Rand, und sollte es trotzdem noch natürliche und künstliche Barrieren geben, so globalisiert man sie rund und schleift die Ränder und Kanten zum freien, ungestörten Warenverkehr. Die stolzesten und ertragreichsten Runden auf unserem Planeten dreht nach wie vor Amerika: Mit Kapital und Coca Cola und beglückenden Erfindungen und Hollywood und Kriegsschiffen und einer Unmenge an Träumen.

 

"Die Amerikaner können drei Sachen wirklich gut: Basketball spielen, Krieg führen und Zeug kaufen." Die Liste ist pointiert, also mangelhaft. Vieles fehlt, eines gewiss: die Fabrikation von Träumen, von Träumen eines Lebens süss wie Coke, spannend wie ein Actionfilm, handhabbar wie ein ausgereiftes Computerprogramm, rund um die Uhr offen für die Erfüllung jeglicher Wünsche. Weich, nachgiebig, leicht verdaulich wie ein Big Mac, nichts, woran man sich die Zähne ausbeissen muss. Ein Traum eben.

 

Amerika ist ein Mythos und ein wirkliches Land. Man kann hinfliegen, und es ist tatsächlich da. Man kann aber auch zu Hause bleiben, und da ist es auch, wenigstens zum Teil. Es setzt seine Duftmarken überall, sogar im All. Was es hinterlässt, wird McWorld genannt, von denen einen gefürchtet, verachtet, bekämpft, von den anderen begrüsst, geschätzt und bewundert. Es rettet mit politischen, wirtschaftlichen und unterhaltsamen Anstrengungen die Welt vor sich selbst, damit sie sich nicht durch Eigeninitiative und Autonomie erschöpfe oder in Langeweile versinke.

 

McWorld existiert, mit unserer tatkräftigen Hilfe als KonsumentInnen seiner Waren und Träume. Und die Waren sind manchmal nur irgendwelches Zeugs und die Träume auf dem Niveau von furchtbar herzerreissendem Kitsch – aber nur, wer noch nie in einen Hamburger gebissen hat und dem Redfordschen Pferdeflüsterer beim Flüstern nicht gebannt lauschte, dürfte sich eigentlich ungeschützt in Spott und Hohn ergehen. Oder ist das ganz falsch und vielmehr so: Trotz Hamburger und Internet und Coke und Hollywood und einer Politik mit Soap-Opera-Qualitäten bewahren wir die nötige Distanz und einen kühlen Kopf? Wir sind zwar von einigem recht angetan und vergnügen uns oft köstlich, sind doch aber trotzdem keine amerikanische Konsumkolonie, vielmehr unterscheidungsfähige EuropäerInnen: Wir haben Stil und Kultur und Niveau und alte Traditionen und wir sind tiefsinnig und ernst, obwohl wir natürlich, wie alle anderen auch, unsere Ausfälle zu verzeichnen haben – kleine Kriege und grosse Kriege und Genozide und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und Fundamentalismus und rechter Populismus und Mafia und korrupte Regierungen und Schlägerein in Parlamenten und Schlammschlachten gegen hohe Regierungsanwärterinnen – aber wir sind eigentlich nicht so, imgrunde sind wir nicht so.

 

Ein bisschen so sind wir natürlich schon, aber doch anders. Das versteht niemand, man selbst versteht es ja auch nicht recht und deshalb ist ja auch beispielsweise Bill Clinton uns eine so grosse Hilfe. Man mag zwar in allen möglichen Bereichen versagen, aber dieser derbe amerikanische Politschwank kitzelt den alten Stolz hervor. Für so etwas haben wir einfach zuviel Stil. Natürlich haben wir sogar hier in der Schweiz unsere Skandalgeschichtchen, aber im Kleinformat des Berner Parlamentssessions-Sex. Der ist aber nicht so wahnsinnig sensationell, schliesslich handelt es sich dabei, jedenfalls soweit man weiss, nicht um Amtsraummissbrauch und die darin stattfindenden Ergüsse mögen zwar auch lustvoll sein, dienen aber in erster Linie der reinen Pflichterfüllung.

 

Allenthalben wird der Niedergang differenzierten Denkens, aufrichtiger Rede und transparenten Handelns in der Politik beklagt und trotzdem scheint es so: Kann man wählen zwischen fundierter Information und Show oder zwischen präsidentiellen Sexgeschichten und dem Krieg im Kosovo, so fällt vielen die Wahl nicht allzu schwer. Amerika ist überall. Und die Erde ist zwar nicht flach, wie die Flat-Earthers behaupten, aber vielleicht betrifft das Flache ja auch mehr unsere Köpfe als unseren Planeten.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ