Was hat die Atombombe mit einer Badehose zu tun?

 

Alles, was wir tun, hat eine Geschichte. Auch das Gewöhnliche. Das Sitzen etwa oder das Essen, Schlafen, Baden, Wohnen, Waschen, Spielen, Reisen. Um zu wissen, wer wir sind, reicht es manchmal, zu wissen, welches Besteck wir benützen, wie oft wir duschen, was wir essen, wie wir uns betten, wo der Fernseher steht, wie wir reisen und wohin.

 

Wie Kindern, die glauben, sie seien die ersten Menschen und die Welt gerade erst zu ihrem Vergnügen erfunden worden, entgeht uns manch interessanter Faden, der uns mit der Herkunft ganz alltäglicher Dinge verbindet. Das interessiert nicht alle. Verständlicherweise. Beim Greifen nach der Gabel eine Sozialgeschichte des Besteckes zu hören oder beim Überstreifen der Badehose an ihre lange wechselvolle Geschichte erinnert zu werden – man kann sich durchaus belästigt fühlen. Solche Beschäftigungen sind freiwillig, wie Vergnügen.

 

Jahreszeitlich angemessen wäre etwa der geschichtliche Faden zur Badehose, der Sonnenbrille oder der Badekultur ganz allgemein. Möglich sind nur ein paar Ausschnitte: Badeferien am Meer zum Beispiel – ein alter Spass und ein vielschichtiger dazu. Es gibt sie zwar schon lange, aber nicht für alle. Wo die Fragen: "Was sollen wir essen, was trinken, und womit sollen wir uns kleiden" das Leben bestimmen, tritt die Frage: "Wie können wir uns vergnügen?" in den Hintergrund. Erst in der ersten Hälfte unserers Jahrhunderts vergrösserte sich der Spielraum für Vergnügen dank verbesserter Einkommen und abnehmender Kinderzahl für breite Bevölkerungsschichten.

 

Für Adel und reiches Bürgertum wurden schon im 16. Jahrhundert Bade- und Kurorte rund um heilende Quellen zu den ersten Freizeitzentren Europas. Man fuhr dorthin der Gesundung wegen, gönnte sich aber durchaus auch andere exquisite Vergnügungen. Im 18.Jahrhundert bevorzugte man eher Kurorte an der Meeresküste; Baden im Meer galt als heilsam und wurde von den Ärzten für alle möglichen Krankheiten verschrieben, von der Lepra bis zur Gonhorrhoe. Die Gesundheit war der eine Grund für die Reise ans Meer, der Wunsch nach Zerstreuung und Abwechslung der andere. Rund um die Kuranlagen der Badeorte entstanden zu diesem Zwecke Theater, Ballsäle, Restaurants, Parks, Clubs, Spielhallen usw. Dank der unüberwindbaren Schranke des Geldes blieb man dabei bis ins 20.Jahrhundert hinein unter seinesgleichen.

 

Nun gibt es aber eine Art Gesetzmässigkeit, zum Leidwesen der reichen Oberschichten, und das lautet: Jede soziale Schicht orientiert sich in ihren Wertvorstellungen und Wünschen an denen der nächsthöheren. Abstand zu schaffen, räumlich und sozial, durch Stil , Benehmen und mit allem, was allein dem Geld gelingt, wurde zwar auch hier versucht, gelang aber nicht. Exklusivität liess sich nicht aufrechterhalten, oder nur durch Ausweichen auf Neues. Die Badeorte am Meer jedenfalls wurden immer häufiger von einfachen Leute besucht, was auch einer technischen Errungenschaft zu verdanken war: der Eisenbahn. Sie erst ermöglichte es breiten Bevölkerungsschichten, die nicht in Küstennähe lebten, überhaupt ans Meer zu gelangen.

 

Dieser ganze Mechanismus klingt vertraut. Exklusive Ferienorte, Sportarten, Freizeitvergnügen – wer etwas auf sich hält, ob mit Geld oder Snobismus gesegnet, verzieht sich, wenn "das Volk" anrollt, das nun auch Tennis und Golf spielen oder sich an den schönen, abgelegenen Stränden in der Sonne ahlen will, mit dem inzwischen erschwinglichen Flug tatsächlich in jede Nische vordringt und weltweit die Wonnen der Gewöhnlichkeit zelebriert. Da hilft nur noch die Flucht ins Reduit des Privatstrandes, Privatjets und Privatclubs. Reichsein ist auch nicht alles, sagen die Reichen – hinter geschlossenen Türen.

 

Nichts Neues unter der Sonne – als die Sonne. Denn diese scheint zwar über arm und reich, auf dem Berg und am Meer, aber sie sendet ihre immer gefährlichere Strahlung ohne Ansehen der Person oder des Geldbeutels. Was einen direkt zur Erfindung von Sonnenschutzmitteln führt. Diese wurden in den USA entwickelt, während des Zweiten Weltkrieges und zwar, um die im Pazifik stationierten Soldaten vor Sonnenbrand zu schützen.

 

Lange Zeit hindurch war Bräune Zeichen niederer Schichtzugehörigkeit – braun wurde, wer im Freien arbeiten musste. Der neu entdeckte freizeitliche Badespass verschob auch hier Grenzen: Die Masse der Badenden nahm zu, umgekehrt zu den Massen der Badeanzüge: diese wurden knapper und knapper. Sich die Haut zu bräunen wurde chic, und die Gefahr, sich dabei zu verbrennen, wuchs. Die Pharmaindustrie, noch nicht so gewitzt wie heute, verschlief diese Entwicklung in der Meinung, die Leute würden sich durch Schirm oder Kleidung schon rechtzeitig schützen. Doch die US-Soldaten auf ihren Flugzeugträgern oder im Kampfgebiet hatten keine Sonnenschirme. Die pharmazeutischen Labors der Armee begannen deshalb in den frühen vierziger Jahren mit Sonnenschutzmitteln zu experimentieren.

 

Krieg und Freizeitvergnügen, geschichtlich verbunden durch Sonnenschutzmittel. Es gibt eine noch aberwitzigere Verbindung, sie besteht aus zwei Stückchen bunten Stoffs mit Namen Bikini. Am 1.Juli 1946 zündeten die Vereinigten Staaten über dem Bikini-Atoll zu Versuchszwecken eine Atombombe. Zeitgleich suchte in Paris der Modeschöpfer Louis Réard nach einem Namen für seinen atemberaubend sparsamen, zweiteiligen Badeanzug und taufte ihn kurzerhand Bikini – überzeugt von der enormen Sprengkraft, die in seinem Badeanzug steckte. Wirklich atemberaubend, wie sparsam man auch mit Verstand umgehen kann. Da hilft nur eines: nichts.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ