Wozu ein Über-Ich, ich habe Sonja

 

Ich gehe nie ohne Sonja einkaufen. Nicht aus Neigung, nicht aus Pflicht, ich habe einfach keine Wahl. Hartnäckig heftet sie sich an meine Fersen, redet auf mich ein, drängelt sich hinter mir durch die Tür des Supermarktes.

 

Ich gehe nie ohne Sonja einkaufen, weil gegen Sonja kein Kraut gewachsen ist, obwohl sie an nichts lieber knabbert. Sonja ist der geborene Polyp, ihre Fangarme sind kräftig und reichen weit.

 

Das Übel mit Namen Sonja ist kein Produkt des Schicksals, sondern ein Prinzip. Es ist von grundsätzlicher Natur, denn Sonja ist eine Heilige, eine Heilige des richtigen Einkaufs, eine nie erlahmende Pilgerin auf den Pfaden der Rechtfertigung durch den Glauben an die politisch und ökologisch korrekte Nahrungsbeschaffung. Niemals wird sie schwach werden und sich ein Einverständnis abringen, wenn sie mich Richtung Supermarkt losmarschieren sieht. Ungehalten und in scharfem Ton zischt sie mir die richtigen Richtlinien ins Ohr, erläutert sie mir die Pflicht zum Nahbereich, zur Taufrische und zur natürlichen Natur, die Jahreszeiten und nicht Gelüsten folgt. Zieht der Fuss dennoch unbelehrbar in Richtung Supermarkt, so singt sie mir das Hohelied des Wochenmarktes mit seinen fruchtigen Tomaten, hingebettet neben die lieblichen, jungen Zwiebeln und die zarten Zucchetti, die unbehelligt vom farbloseren Lauch ihr Grün entfalten. Welche Farben, welche Wonnen, und das Ganze gebadet in die Freundlichkeit der Menschen, die es herauslesen, zusammenstellen, in Tüten verpacken und mit netten Worten begleiten: Das Wunder der friedlichen Kommunikation, und weit und breit kein kein entschuldigender Grund, der nicht zur Ausrede wird.

 

Sonja wäre nicht Sonja, gäbe sie jetzt schon auf. Während ich den Moment abwarte, da mir der Einstieg in die Drehtüre des Supermarktes glücken könnte, läuft sie bereits auf Hochtouren. Überzeugt von der Tugend des Verdachtes, sieht sie in der Drehtür bereits das Verhängnis, das im Innern die Arglosen erwartet: die Tür ist keine Tür, die sich vor einem, unterwürfig beinahe, auftut, sondern die Tür ist eine Tür, die einen unerbittlich und von hinten bedrängend in den Laden schiebt. Harmlos ist das nicht, nicht für eine wie Sonja. Die Drehtür ist, im Gegenteil, ein Symbol für die sanfte Manipulation, die einen drinnen erwartet. Wähnt man sich auch frei und entscheidungsfähig, vor den Gestellen regiert der Magen und der will verwöhnt sein und geniesst die Verführung, und schon sitzt man in der Falle, sagt Sonja. Diese ungeheuerliche schlaraffenländische Fülle, diese marktähnliche Gestaltung, diese ausgeklügelte Ordnung und Ästhetik des Angebotes – all das mache vergessen, dass man nicht Äpfel kauft und Bohnen und Wein, sondern eine Weltordnung.

 

Dass diese Weltordnung eine Weltunordnung ist, steht für Sonja ausser Frage, und man kommt nicht umhin, ihr in einigem beizupflichten. Einkaufen ist ja inzwischen eine Weltreise, man kommt herum: holt man sich die Tomate aus einem Gewächshaus in Belgien, so überquert man für die Bohnen aus Ägypten schon mal das Mittelmeer, ganz zu schweigen von den grünen Spargeln aus Kalifornien und den Bananen aus Costa Rica, die einem bereits einen Flug über den Atlantik abfordern. Aber mit Sonja auf den Fersen würde man die Hand sowieso nur in absoluten Ausnahmefällen über Europa hinausstrecken – obwohl natürlich auch diese Regel in ihren Augen keine Gnade findet, denn die Hähnchen aus Ungarn sind ja auch nicht gerade die erstrebte Unbedenklichkeitsbescheinigung. Sonja ist unerbittlich. Von Marktgesetzen will sie nichts hören, wenn sie den ökologischen Preis vorrechnet und nur bei der Frage nach Salmonellen in den Eiern vergisst sie für kurze Zeit die Nachfrage nach deren Nationalität.

 

Sonja bringt man nicht zum Schweigen. Auch nicht mit Max Havelaar-Bananen – muss eine(r) denn Bananen essen? Natürlich stimmt sie die erhöhte Fairness, der bessere Preis etwas milder, aber es gibt immer eine Schwachstelle, und sie findet sie. Frei nach Theodor W. Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" gibt es für Sonja keinen richtigen Einkauf in einer falschen Welt, in der das Fressen immer vor der Moral kommt.

 

Ja, Sonja ist wahrhaft eine Heilige. Die Reinkarnation jenes Gewissens, das die Waschmittelwerbung einst der fehlbaren Hausfrau zur Seite stellte, die immer neu zum Wohle ihrer Lieben umerzogen und weitergebildet werden muss. Und so tritt sie denn etwa, steh ich vor dem Gemüse, schattengleich, neben mich: Hast Du denn wirklich auch alles getan, an alles gedacht, das Richtige entschieden, das Beste gewählt? Der Griff nach der Aubergine, dem Käse, dem Rindfleisch, ist er wirklich o.k.?

 

Gibt es nicht eine Margarine – oder ist es Butter – die heisst "Du darfst"? Wäre es da heute nicht folgerichtig, in jedem Supermarkt ein "Du darfst"-Abteilung einzurichten, für jene zumindest, die mit einer Sonja geschlagen sind und das nötige Geld für eine ausreichendere Portion Moral aufbringen können und auch wollen? Eine Konsum-Nische für die von Skrupeln geplagten, für die ZweiflerInnen und Unsicheren, die mittelmässig sind in ihrem Tun und den Weg in den Claro-Laden mit seinen Bio- und 3.Welt-Produkten einfach nicht schaffen? Eine Produktepalette "Gewissen, light" für jene, die nicht Angst vor dem Dicksein haben, aber vor dem Fressen ohne Moral? Denn bei allem guten Willen, folgte man den rigorosen Grundsätzen Sonjas, man würde glatt verhungern.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ