Die richtige Frage

 

Antworten brauchen wir, Fragen gibt es genug. Falsch. Was uns fehlt, sind die richtigen Fragen. Aus diesem Grund startete die europäische Kulturzeitschrift "Lettre Internationale" letztes Jahr einen Essay-Wettbewerb. Zuerst bat sie um die Frage, die eine Frage, jene also, in der alle anderen Fragen, die heute von Bedeutung sind, enthalten sind. Sie schrieb zu diesem Zwecke an neunhundert Intellektuelle in der ganzen Welt. In dieser "Olympiade der Ideen" gab es, wie bei jedem Wettstreit, Regeln: Neu sollte die Frage sein, verblüffend, konkret, das heisst auf Leben bezogen, nicht eurozentrisch und kulturspezifisch, keine frommen Wünsche formulieren, relevant sein, beunruhigen, auch Spott, Wut und Revolte enthalten können, ohne vorbelastende Terminologie auskommen, erlebnisoffen sein, alle erreichen, ob in Kalkutta oder Algerien, dem Sahel oder New York.

 

Diese Olympiade wird nicht stattfinden, denkt sich unsereins – höchstens in der reduzierten Form einer Olympiade der Eitelkeiten und des Grössenwahns. Das Tohuwabohu der Erde mit Worten in Ordnung zu überführen, war einmal ein göttlicher Schöpfungsakt – so erzählt es die Bibel. Das seither in Gang gesetzte Weltdurcheinander ist nicht weniger chaotisch, aber auch hier werden grosse Erwartungen in das erlösende Wort gesetzt. Märchen und Mythen haben es vorgemacht – der passende Name, das entscheidende Wort, die drei Rätsel richtig gelöst und das Rettende geschieht.

 

Wir wären schon froh, die drei entscheidenden Rätsel formulieren oder die richtige Frage stellen zu können. In den richtigen Fragen, das nehmen wir an, steckt bereits ein Teil des Wissens um die Anworten. Fragen, die sich nicht schon im Entstehen beantworten, werden niemals beantwortet, so dramatisch hat es einst Franz Kafka formuliert. Probleme, die ihre Lösung nicht bereits in sich tragen, werden niemals gelöst. Ob auch das stimmt? Es mehren sich zumindest die Stimmen, die überzeugt sind, wir seien wahre Genies im Finden und minutiösen Beschreiben von Problemen, ewige Dilletanten aber beim Lösen derselben. Jede angebliche Lösung sei sowieso nichts anderes als die Ersetzung des einen Problems durch ein paar andere, wenngleich neue.

 

"Scheitern, immer scheitern, besser scheitern", schlägt uns Georg Tabori vor – auch das eine Möglichkeit, es sich ernsthaft leichter zu machen.

 

Bloss, dass man solches zwar allenfalls denken, keineswegs aber sagen darf. Ein Problem ohne Lösung ist wie ein Hammer ohne Nagel – gewaltige Kraft ohne konstruktiven Ausweg. Fehlt der Nagel, schlägt er anderswo zu.

 

Als wäre dies alles nicht schon schwierig genug, tauchen in diesem Durcheinander nämlich auch noch "die Leute" auf. Manchmal nennt man sie auch "das Volk". Es sind diejenigen, die ohne Lösungen nicht auskommen, die man fürchten muss, wenn man sie nicht mit einfachen Antworten zu füttern weiss. Zoowärtermoral hat dies einmal einer genannt: Der Blick auf jene einfachen Wesen, die man für zufrieden hält, wenn man ihnen ihr tägliches Futter und den sauberen Stall verschafft, ihnen ein bisschen Auslauf gönnt und ein bisschen Fortpflanzung, und ihnen die Gewissheit vermittelt, es sei auch morgen noch so. Wer zoowärterisch denkt, sieht ohne Zweifel seinen Zoo und vergisst mit der Zeit, wer zuerst da war: der Zoo oder der Wärter. So werden Lösungen zu Gittern, mit denen man die unberechenbaren Wesen dahinter in Schach hält.

 

Aber eigentlich ging es um eine Preisfrage. Mehr als 100 Männer (und ein paar wenige Frauen) haben eine Frage vorgeschlagen. Sie kreisten um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie, um die menschenverträgliche Bewältigung der Globalisierung, um die Möglichkeit des Dialoges zwischen den Kulturen und um die Zukunftsfähigkeit dieses Planeten überhaupt. Die Frage, welche ausgewählt wurde, hat der französische Philosoph Michel Surya folgendermassen formuliert: "Die Zukunft von der Vergangenheit befreien, die Vergangenheit von der Zukunft befreien?" Auch ein paar Mal lesen genügt nicht, um die Frage zu verstehen. Erst seine ausführlichere Formulierung der Frage hilft weiter: "Kein Tag vergeht, ohne dass die Vergangenheit die Gegenwart heimsucht. Meist als das Schlechte (Kriege, Genozide). Und dass sie den ganzen Raum einnimmt, den man dem Denken der Gegenwart widmen sollte. Eins ist sicher: Die Vergangenheit wiegt schwerer denn je. Zu schwer? Vielleicht. Steht nicht dem Menschen heute mehr Gedächtnis zur Verfügung, als er ertragen kann? Zu viel Erinnerung, um furchtlos in die Zukunft schauen zu können? Ist die Angst vor der Zukunft (auch die Freiheitsbewegung, durch die man ihr entgegengehen sollte, macht Angst) nicht eine Angst, in der sich diejenige spiegelt, die im nachhinein die Vergangenheit hervorruft? Indem wir jeden Tag ein Stück mehr Historiker und ein Stück weniger Philosoph werden, vergessen wir, dass für das Begehren der Zukunft das Vergessen nicht weniger notwendig ist als die Erinnerung."

 

Begehren der Zukunft, Vergessen der Vergangenheit – um wievieles einfacher wäre es, wir könnten bei Null anfangen. Bei der ersten unbeschriebenen Seite eines Buches, dem noch leeren Horizont, dem neuen Jahrtausend ohne die alten Fragen und die ausstehenden Antworten. Dass es unmöglich ist, niemand bestreitet es, einer der Gründe hat Heinrich Heine trefflich formuliert:

 

"Die Welt ist wie ein grosser Viehstall, der nicht so leicht wie der des Augias gereinigt werden kann, weil, während gefegt wird, die Ochsen drinbleiben und immer neuen Mist anhäufen."

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ