Eltern? Vergangenheit!

 

Es gibt Leute, die reisen irgendwohin, weit weg meist, um andere Leute zu studieren. Sie tun das freiwillig, aus Neugier, mit dem Willen, zu sehen, was ein Mensch ist, unter anderen, fremden Bedingungen und in wie vielen unterschiedlichen Welten Menschen auf ein und derselben Erde leben, arbeiten, lieben, sterben. Sie heissen EthnologInnen und sie versuchen das Fremde, die andere Kultur, möglichst unvoreingenommen wahrzunehmen und zu verstehen.

 

Man braucht nicht EthnologIn zu sein, man braucht nicht wegzufahren, nicht einmal nach draussen zu gehen, es gibt Tage, da kann es gewissen Leuten, man nennt sie Eltern, so vorkommen, als befänden sie sich in der Gesellschaft von Angehörigen einer ausgesprochen fremden Ethnie, gemeinhin Jugendliche genannt. Keine Expedition ist nötig, um auf diese eigenartige Spezies zu stossen, sie war eigentlich immer schon da, und doch ist es, als begegne man ihr zum ersten Mal und sie habe sich eben erst ans Herdfeuer gesetzt, um in ihrer fremden Sprache eigenartige Botschaften auszutauschen. Wäre man EthnologIn und hätte vorgehabt, Feldstudien zu betreiben, man hätte wenigstens Vorbereitungen getroffen und die notwendige Ausrüstung beschafft, so aber fehlt es plötzlich an allem und jedem, das helfen könnte, diese unerwartete Kulturbegegnung am heimischen Herd einigermassen befriedigend zu bestehen.

 

Eigentlich hätte man ja vorgewarnt sein müssen und doch ist man meistens überrascht, wenn es denn soweit ist. Durchblick scheint allein der eigene Nachwuchs zu haben, der genau weiss, dass Eltern Vergangenheit, Gleichaltrige aber Zukunft sind, wie es im Facts vom 9. April zum Thema "Eltern ohne Einfluss" lapidar heisst. Dass das Wort Eltern auf das Wort alt zurückgeht, wen kann das noch verwundern; knapper lässt sich ein Urteil denn auch nicht formulieren. Erst noch war man der süssen Kleinen Welt, um sich dann unmerklich in eine Hinterlassenschaft verwandelt zu sehen, in notwendiges Hinterland, von dem ausgeschwärmt wird auf der Jagd nach dem, was ein "eigenes Leben" heisst. Rückzug und Diskretion werden für Eltern plötzlich Pflichtprogramm. Nach wie vor bewohnt man zwar die gleiche Wohnung, aber nicht mehr dieselbe Welt. Die geschönte Variante dieses Vorganges heisst: Das alles ist wahnsinnig spannend und aufregend! In der nüchternern Version heisst es dann eher: Es mag ja interessant sein, aber es ist grauenhaft anstrengend.

 

Die Idee der Feldforschung taugt dabei nicht schlecht, ist – als Überlebenshilfe – sogar verführerisch: Mit dem nötigen Abstand, mit so viel Objektivität und Vorurteilslosigkeit wie möglich schauen, was sich hier an fremden Verhaltensregeln, Verständigungsformen und Kleiderordnungen zeigt, ohne schon zu wissen, was davon zu halten ist. Und trotzdem kann das Experiment natürlich nicht wirklich gelingen, weil man gerade die eine, absolut notwendige Voraussetzung nicht mitbringt: Neutralität. Die jungen KriegerInnen in der eigenen Küche sind zwar oft seltsam fremd, aber doch auch zu vertraut. Schlimmer noch, sie sitzen als zweite Seele, ach, in der eigenen Brust. Das macht die Sache nicht eigentlich leichter. Bloss: Dass es leicht sein solle, hat ja auch niemand gesagt.

 

Im besten Fall sind Eltern diskrete, wohlwollende BegleiterInnen mit BeobachterInnenstatus, oder kluge PolitikerInnen und Strateginnen im täglichen, zähen Verhandlungskampf um's je eigene Terrain und um die akzeptable Verteilung von Freiheiten und Pflichten. Der Nachwuchs ist, hat man Glück, verhandlungsbereit. Bei alledem ist der beste Fall jedoch wie immer der Ausnahmefall, denn schliesslich befinden wir uns im wirklichen Leben. Und im wirklichen Leben, da sind Kinder sowieso unerziehbar, sagen uns jetzt Verhaltensgenetiker. Sollten sie recht haben, dann würden Kinder das, was sie seit allem Anfang sind, denn nicht die Eltern, sondern die Gene führen Regie. Natürlich gelten Liebe, Wärme und Respekt nach wie vor als notwendige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Kindes, aber für die Prägung seiner Persönlichkeit wird die Bedeutung der Gene und der Einfluss Gleichaltriger viel höher veranschlagt als jener der Eltern. Im alten Streit um das Verhältnis von Biologie und Umwelteinflüssen, von Abhängigkeit und Freiheit, mag dieser Pendelschlag in Richtung biologischer Determination beunruhigen, indem er allen VerächterInnen des freien Willens Argumente in die Hand gibt. Für Eltern aber mag das Ganze, obwohl desillusionierend, doch auch entlastend sein. Wenn die Eltern, wie es in besagtem Facts heisst, so gut wie keinen Einfluss auf die Entwicklung ihres Nachwuchses haben, dann müssten sie sich weder weiterhin in fruchtlose Scharmützel verwickeln lassen, noch sich als EthnologInnen betätigen, sie könnten sich sorglos überflüssig machen. Die Computerindustrie wird's ihnen gewiss danken. Erziehungspuppen hat sie in den USA bereits auf den Markt gebracht, vielleicht könnte sie bald einmal mit Elternpuppen dienen. Unsereins könnte sich dann diskret im Hintergrund halten, sozusagen als erster Ersatz. Was für eine schöne neue Welt: Anstatt einer missmutigen Mutter, einem nörgelnden Vater ein Backstreetboy, ein del Piero, vielleicht eine Pamela Anderson oder eine Sandra Bullock am Küchentisch! Unser Nachwuchs wäre begeistert und er würde Spinat essen und das Zimmer aufräumen und mehr als ein Mal pro Monat freiwillig duschen und vor zwölf zu Hause sein und willig den Abwasch übernehmen und überhaupt  g e r n e  arbeiten und hätte dabei das, was die wirklichen Eltern am meisten in Panik versetzt: Spass.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ