Das Erdhörnchen im Laufrad

 

"Geh mit der Zeit, aber komm von Zeit zu Zeit zurück" – schrieb der polnische Aphoristiker Stanislaw J. Lec. Ein einfacher Satz, ein schwieriges Unterfangen.

 

Wohin zurück? Wenn mit der Zeit gehen ja gerade heisst, sich einlassen auf etwas Neues, sich, wenn vielleicht auch mit Bedauern, trennen können von Vorstellungen und Haltungen, die bislang durchaus tauglich waren und oft mit beachtlichem Aufwand erlernt wurden.

 

Der Ausgangspunkt verliert beim  Weitergehen an Kraft; zurückkehren ist weitaus weniger attraktiv als vorwärtsgehen und sehen, was noch alles kommt. Weitergehen braucht keine Rechtfertigung, auch das Neue nicht, dem man zu begegnen hofft, nur zurückgehen, um sich in den Sicherheiten des Gewohnten zu wiegen, muss begründet werden. Bloss womit?

 

Mit der Zeit gehen ist durchaus spannend, wenn man den nötigen Elan und die erforderliche Kraft für die Bewegung aufbringt. Das Augenblickliche, das alles offen hält und für möglich, ist nicht ohne Reiz. Das denkerische und emotionale Provisorium, das ein Weitergehen ohne Bedauern erleichtert, weil man sich nicht mit Dingen beschwerte, in denen sozusagen das Gewicht des eigenen Lebens steckt und von denen man sich deshalb vielleicht nur schwer trennte. Mit der Zeit gehen, das heisst auch: ohne allzuviele Kanten sein, mit glatter Oberfläche, um sich nicht zu verheddern, oder hängenzubleiben an irgendeinem Hindernis. Problemlos kompatibel mit jeder neuen Erfordernis – nicht nur die Geräte sind so, auch der windschlüpfrige Mensch, der in die neuen Umstände passt. Man nennt das aufgeschlossen und zukunftsorientiert, wer es bedauert, moralisiert und was gibt es unappetitlicheres?

 

Geh mit der Zeit, aber komm von Zeit zu Zeit zurück. Ob das möglich ist? Schritt für Schritt geht man weiter, und man trägt sich ja nicht einfach wie einen Koffer in neue Umstände hinein, und dort öffnet man den Koffer und lässt sich hinaus, geradeso wie man hineinging. Man bleibt nicht, wer man war. Vielleicht vergisst man, wo der Ausgangspunkt war und vielleicht ist er auch einfach nicht mehr da. "Tatsachen sind nicht umkehrbar", schreibt der amerikanische Autor Paul Auster. "Dass man in etwas heineingeraten kann, bedeutet noch lange nicht, dass man auch wieder herauskommt. Eingänge werden nicht zu Ausgängen, und nichts garantiert einem, dass die Tür, durch die man gerade getreten ist, noch da sein wird, wenn man sich umdreht, um noch einmal danach zu sehen."

 

Mobil sein, kompatibel mit allem, was neu zu sein verspricht, ist demnach nicht nur vergnüglich, sondern auch wagemutig. Es gibt vielleicht keinen Weg zurück, weil da nichts ist, das so etwas wie dauerhafte Gültigkeit besässe, auf die man sich verlassen könnte. Angenehm und vergnüglich ist dieses Leben quasi von der Hand in den Mund wohl nur dann, wenn man es frei und willig lebt und nicht, wenn man keine andere Wahl hat.

 

Geh mit der Zeit, aber komm von Zeit zu Zeit zurück – der Satz verspricht, dass da etwas ist, das Bestand hat und bleibt, wie weit weg man auch ging. Man kann zurück und es ist noch da. Bloss was ist es? Markierungen, die einem zeigen, wie weit man sich entfernte? Teile der alten Welt, die man hinter sich liess, Traditionen, Massstäbe, Ordnungen, Denkraster, Haltungen? Und was soll man bloss mit ihnen anfangen, wo sie doch geblieben sind, wo sie waren und sich nicht anzupassen brauchten an die neuen Umstände?

 

In Bewegung bleiben ist der erste Glaubensgrundsatz der Moderne. Dem Ort, wo man ist, darf man nicht trauen. Mit der Zeit gehen, mit der Zeit rennen, rund um den Globus, allseits vernetzt und angeschlossen und eingestöpselt. Und nicht von Verlusten reden, weil Verluste gibt es erstens nur für die andern und nur für die, die bleiben, die nicht weiterwollen, weil sie meinen zu haben, was nötig ist; das Gewinnen aber liegt allein im Vorwärts.

 

Weshalb also zurückkommen, sofern das überhaupt geht?

 

Vielleicht einfach, um Distanz zu gewinnen zu dem, woran man sich gewöhnt hat, mit der Zeit, ohne es zu merken, und um es wirklich zu sehen. Zu sehen beispielsweise, dass es nichts gibt, vor dem Halt gemacht wird im Umbau und Neubau der Welt. Dass es nichts gibt, das nicht registriert, zerlegt und auf mögliche Verwertbarkeit hin untersucht wird – natürlich zu unser aller Nutzen und wer will nicht, dass uns all die dabei gewonnen Erkenntnisse zugute kommen? Schon immer haben die Fortwärtsschreitenden von Gewinnen gesprochen und die Zweifelnden von Kosten und Verlusten. Das ist nicht neu. Nur, dass alles immer komplizierter wird, die Eingriffe immer weitreichender und die Massstäbe, mit denen wir bisher auskamen, schon längst nicht mehr tauglich sind. 

 

Geh mit der Zeit – gut. Aber überall hin? Komm von Zeit zu Zeit zurück – aber wohin und weshalb auch, wenn wir doch wieder weitermüssen? Aus Distanz betrachtet scheint so vieles einfach verrückt und trotzdem lernt man es langsam und Schritt für Schritt einbauen in die eigene Sicht der Dinge.

 

Es hat etwas von jenem beklemmenden Bild, mit dem die  wirtschaftliche Strategie der Bedürfniserzeugung und Bedürfnisbefriedigung verglichen wird: Sie gleicht dem Erdhörnchen im Laufrad, das sich plagt, mit dem Laufrad Schritt zu halten, dessen Drehgeschwindigkeit es selber erzeugt.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1998 / Kolumne NLZ