Freie Marktspielschaft

 

Die Welt ist eine Kugel, also spielen wir mit ihr. Oder schauen zu. Oder werden geworfen, wie ein Ball.

 

Täter, Opfer, Gaffer – aus nichts anderem bestehe sie, die Menschheit, hat einmal einer gesagt. Und wenn die Kugel Risse bekommt, wenn sie bricht, dann wird auch das nicht mehr stimmen, dann wird es ausser Opfern und Gaffern nichts gegeben haben. Keine Täter, keine Einzelnen, bloss austauschbare menschliche Schaltstellen in einem weltumspannenden System von Sachzwängen: Opfer bloss, allesamt, die Regisseure von Markt und Macht, die Verwaltungsratspräsidenten und Konzernchefs und Topmanager und Grossaktionäre. Gefangen in riesigen Villen, mit Millionenvermögen gestraft, süchtig nach Mehr, von was auch immer. Mächtig sind sie, aber hilflos, sagen sie; ausgestattet mit gutem Willen und sozialem Gewissen, aber leider leider schleift es auch sie, wie einst Charlie Chaplin durch die Zahnräder der modernen Welt. Nach Visionen gefragt, menschenverträglichen, murmeln sie Markt, Tag für Tag, wie eine Litanei. Kein Gott so unumstösslich wie DER MARKT, kein Gebet so inbrünstig wie die Bitte um Marktanteile und den Anstieg der Aktienkurse. Wirtschaftsstandort heisst der Altar, auf dem die Hohepriester des Kapitals opfern: Arbeitsplätze, Sozialklauseln, Lohnkosten. Marktlogik nennt sich das, und sie ist absolut und transzendiert unser aller Verantwortlichkeiten. Oekonomie, so scheint es, ist eine moderne Form von Theologie. Es ist alles da: universale, absolute Heilsbotschaft (ausserhalb des Kapitalismus kein Heil), Dogma (Glaube an den Marktgott, an die väterliche Güte des Kapitals, das seine Gewinne ausschüttet über uns alle, Glaube an Wachstum und Produktivitätssteigerung als Garantinnen von Zukunft, auf dass es komme, das Reich befriedeter Konsument/innen), Hierarchie (allein den Eingeweihten, dem Markt Nahen, gehört die Macht; Glaube an die guten Hirten, die allein wissen, was uns zum Vorteil gereicht). Der Verbindungen sind viele und ähnlich vertraut die Mechanismen: Die Experten der Theologie haben von Immanenz und Transzendenz, von Zwei-Naturenlehre und Eschatologie gesprochen, vom Geheimnis des Glaubens und den Wegen des Herrn, die vielfältig und verborgen sind; verstanden haben das die Wenigsten. Es war ebenso geheimnisvoll wie es heute ökonomische Theorien, der Dow-Jones-Index oder die Wirkweise eines Derivates sind. Wir verstehen kaum etwas davon, die Mehrheit von uns versteht kaum etwas davon, es bleibt dies alles, trotz Bemühen um ein bisschen Kenntnis, ins geheimnisvolle Dunkel eines Vorgangs gehüllt, der uns zwar alle betrifft, dessen Schleier aber nur wenigen zu lüften gelingt. "Worauf es in der Wirtschaft wirklich ankommt, ist jedem Auge entzogen." (Franz Hinkelammert) Am Tabernakel der Oekonomie, uns den Rücken zugewandt, hantieren allein die Berufenen; aber auch sie haben es mit einem Gott zu tun, der überall und dem Auge trotzdem verborgen ist.

 

"Bei uns arbeitet das Geld"

 

Wir hören und staunen: Güterproduktion lohnt imgrunde nicht mehr, besser man lässt anstatt Menschen Geld arbeiten. Nicht der Fabrik, sondern der Börse gehört die Zukunft. So wird aus Arbeit Spiel. "Was ist die Definition der Börse? Monte Carlo ohne Musik" (Otto Stich). Kasinokapitalismus nennt sich das. Wie bei jedem Spiel wird hier nur gewonnen, wenn andere verlieren. Streicht ein Unternehmen ein paar Tausend Arbeitsplätze, feiert die Börse mit Aktiengewinnen. Und da glauben wir noch immer, durch und durch naiv, an Rationalität, wo das alles ja offensichtlich eine Ansammlung von Mythen, Spieltrieb und Abenteurertum ist. Die Hauptakteure auf der Weltbühne: Männer, gebändigt mit Anzug und Krawatte, noch immer auf der Jagd: nach neuen Märkten, funktionierender Infrastruktur und niedrigem Lohnniveau – oder als risikofreudige "Zocker" auf der Suche nach dem schnellen Geld.

 

"Killer capitalism" – oder wer ist schuld?

 

Wir verstünden nichts von alledem, wird unsereins gesagt. Sich tapfer auch dem Wirtschaftsteil der Zeitung nicht verschliessen, nützt nichts, verhilft nicht zum nötigen Wissen, und wer dazwischenredet benimmt sich wie ein ungezogenes Kind, das mit seinen immergleichen Fragen die Erwachsenen nervt.

 

Wir verstehen tatsächlich nicht, die Mehrheit von uns versteht tatsächlich nicht, wie angesichts der Globalisierung der Märkte, angesichts des weltweiten Raumes der vereinigten Kapital- und Handelsströme nationale Unternehmen und Betriebe diese Konkurrenzwirtschaft überleben können, aber wir verstehen sehr wohl, dass das alles nicht gutgehen kann. Wir möchten gerne glauben, dass versucht wird, die rasante Fahrt, auf der wir uns befinden, abzufedern; und wir wissen, glauben zu wissen, dass uns der Ort, auf den wir zusteuern, nicht gefallen wird, aber dass es keine Abzweigungen gibt.

 

Es würde uns gut tun, wir könnten in diesem Labyrinth von Sachzwang und Marktgesetzen und Kapitallogik von Schuld sprechen und Namen nennen. Eine Zeitungsmeldung zuviel und wir tun es. Aber dann sagen wir uns oder es wird uns gesagt, es sei dumm, unseren gewohnten Massstab von Gut und Böse, Unschuld und Schuld anzulegen. "Wenn wir ihn benutzen", schreibt Natalia Ginzburg, "kommt es uns vor, als benutzten wir einen Spaten, obgleich doch unsere Gliedmassen und unser Geist längst an Zirkel und Rechenmaschinen gewöhnt sind. Wir schämen uns, einen so hausbackenen und groben Massstab anzulegen." Müde und voller Zweifel an unserer Fähigkeit, dieses Instrument zu verfeinern, sensibler und subtiler zu machen, bliebe uns kaum etwas anderes übrig, als es wegzulegen.

 

Natürlich können wir auch das Fingerzeigspiel spielen. Wir zeigen auf den Unternehmer X und der zeigt auf den Kokurrenten Y und der zeigt auf die ArbeitnehmerInnen und die zeigen auf die Aktionäre und so weiter und so fort; niemand ist schuld, alle sind schuld. Der Markt ist schuld, die Zinsen sind schuld, die Konkurrenz ist schuld, die Billiglohnländern sind schuld, die Lohnkosten sind schuld, die KonsumentInnen sind schuld; es ist ein Spiel, bei dem kommt jede(r) einmal dran.

 

Wenn unser grober Massstab von Gut und Böse, Schuld und Unschuld versagt, sei Mitleid mit uns und dem ganzen Universum das einzige Gefühl, dem wir uns überlassen könnten, ohne einen Fehler zu machen. Die letzte Kapitulation vor der Undurchschaubarkeit der Welt und unserer Möglichkeit, sie mit Intelligenz und Willen zu verbessern. Eine klägliche Bilanz für den Versuch, keine Fehler zu machen. Eigenartig auch, dass dem Handeln sehr wohl Irrtümer erlaubt sind, nicht aber jenen, die dieses Handeln beurteilen.

 

Wer gewinnen will, gewinnt

 

Die Welt ist eine Kugel, also wird gespielt. Ein paar wenige spielen das Spiel mit Erfolg. Nicht alle können gewinnen, aber alle können es versuchen, meint David de Pury. Ziel müsse es sein, der Beste sein zu wollen, diese Mentalität sei positiv. Bei ihr gäbe es keine Verlierer, nur Gewinner – bar jeder Logik zwar, aber optimistisch. Die paar Milliarden Verlierer/innen auf diesem Planeten, die paar Millionen Menschen, die einfach überflüssig sind, nicht mal mehr zum Ausgebeutetwerden taugen, haben wohl nicht zu spielen verstanden, die Regeln nicht kapiert, zu schnell aufgegeben, haben verloren, weil sie nicht gewinnen wollten.

 

Wir haben viel zu weit gesucht. Das Ganze, was hier geschieht, ist viel einfacher als wir gedacht haben. Deshalb haben wir es ja auch nicht verstanden.

 

Aber vielleicht ist es noch viel viel einfacher als bloss einfach, vielleicht, so können wir lesen, haben wir es bei diesen Siegern der freien Marktspielschaft mit grossen kleinen Buben zu tun, die es allen endlich zeigen wollen, wer sie sind und dass mit ihnen nicht zu spassen ist, auch wenn es ein Spiel ist. Solche wie jener mächtigste US-Fondmanager namens Jeffrey Vinik, von dem in der Weltwoche geschrieben stand: "Ein erfolgreicher Fonds-Manager darf nicht wie ein Filmstar aussehen, sondern so: 1,60 Meter gross, dicke Brille, bleich und unsportlich. Er muss einen brennenden Wunsch haben: es allen, die ihn als Kind gehänselt haben, jeden Tag aufs neue zu zeigen."

 

Nach diesem Weltwocheartikel wissen wir: Gott lebt in Boston und verwaltet ein Aktienvermögen von 79 Milliarden Dollar. Er ist klein, dick und schlägt zurück.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1997 / Kolumne NLZ