Zeigefingermoral

 

Niemand verbietet es einem, sich auf das, was man hört, sieht und um einen geschieht, einen Reim zu machen.

 

Vielmehr ist es Pflicht, will man sich nicht Gleichgültigkeit vorwerfen lassen.

 

Nun können einem dabei viele Fehler unterlaufen: Man kann Tatsachen falsch verstehen, beurteilen oder weiterdenken. Man kann halbe Wahrheiten für ganze halten, Fiktionen mit Wahrheiten verwechseln, Interessen mit Tatsachen. Man kann sich vorurteilslos wähnen, informiert, nüchtern, vernünftig, sachlich, gebildet, ohne es zu sein. Wenn man Glück hat, merkt das niemand oder es wird einem verziehen.

 

Was aber nicht verziehen wird und einem intellektuellen Harakiri gleichkommt, ist eine Haltung, die verächtlich "Moralisieren" genannt wird.

 

Bevor man so recht weiss, was das eigentlich heissen soll, wird einem hinreichend klargemacht, dass man es auf gar keinen Fall tut, wenn man etwas auf sich hält und ernstgenommen werden will. Es scheint, es handelt sich hierbei um eine Art geistiger Etikette, um eine Frage des Stils – man moralisiert nicht, wie man auch öffentlich nicht in der Nase bohrt oder ähnlich unschöne Dinge tut.

 

Dass man es nicht tut, das weiss man nun und dann wartet man auf die Erklärung, weshalb nicht und man wartet und wartet und weiss am Schluss noch immer nicht viel mehr, als dass also all diese ganz tollen Leute, die furchtbar Gescheiten und Hervorragenden, es tunlichst vermeiden, es zu tun.

 

Diese Leute, die es nicht tun, erfahren wir, das sind solche, die der Welt in die Augen sehen können ohne den Blick abzuwenden, und die Welt mag noch so schrecklich dreinschauen, ihr Gesicht mag fratzenhaft sein, verunstaltet, schmerzverzerrt – die aufrechten Leute, die bewundernswerten, die halten dabei trotz allem das Niveau und das heisst: sie schauen hin und sie schreiben darüber und sie filmen und sie analysieren und sie zeigen alles, und sie lehren uns etwas, aber sie bleiben stark, zeigen Haltung, denn sie lamentieren nicht, sie belehren nicht und sie moralisieren nicht. So steht es jeweils geschrieben, so wird es jeweils ausgedrückt.

 

Moralisieren ist ganz offensichtlich eine Schwäche, eine Art Niederlage angesichts der REALITÄT. Direkter wird es selten gesagt, man ist auf Vermutungen angewiesen und die können etwa so aussehen:

 

Starke Leute nehmen zur Kenntnis, was ist, ohne zu predigen, was sein soll und getan werden müsste. Sie leben, was das Verurteilen betrifft, im Stand der Keuschheit. Wahrscheinlich sind sie auch bescheiden, denn sie glauben nicht zu wissen, was gut zu nennen ist und was böse. Sie sind zurückhaltend und üben Diskretion, sie reden, wenn es um Unrecht, Mangel oder Versagen geht, nicht von Schuld, allenfalls von Umständen und geschichtlichen Wurzeln und tiefsitzenden Traumatas und mannigfaltigen Verlusten, die krank machen, aber niemals böse.

 

Sie denken nicht mit Zangen, sondern mit Pinzetten.

 

Ganz anders die Moralisierenden, heisst es. Man hält sie für eine Sorte Mensch, die sozusagen breitbeinig urteilt, aus vollem Hals und laut, sehr laut, und am liebsten von oben herab nach unten donnernd. Jedes Urteil ein Zeigfinger, jeder Satz ein "ich aber sage euch". Es sind Leute, die genau und scheinbar als einzige wissen, was gut ist und was böse, wo es langgeht und wohin in die Irre; wissen, wo die Strassen gerade sind und asphaltiert und auf dem schnellsten Weg und zügig zum richtigen Ziel führen. Und das richtige Ziel ist dort, wo sie selber hinwollen und die Welt wäre gerettet, wären die andern doch nur etwas mehr so, wie sie selbst.

 

Der Ruf der Moralisierer ist in der Regel, verständlicherweise, nicht sehr gut. Der Duden stellt ihnen die Worte "moralin", "moralinsauer" zur Seite und macht so deutlich, was neben der Anmassung der Tugendhaftigkeit auch noch mitschwingt im Wort "Moralisieren": das Verabreichen von bitterer Medizin, eine Heilung, die die Mundwinkel nach unten zieht, das Lachen aus Gesicht und Körper vertreibt, nur den bitteren Ernst und das Muss und das Sollen und den Verzicht als Therapie kennt. Den andern den Spass nicht gönnen, auch das: Den Rauchenden den Krebs an die Wand malen, den Sporttreibenden den Rollstuhl; beim Essen Vorträge halten über gesunde Ernährung und beim billigen Kleid über die Ausbeutung der Textilarbeiterinnen – die Reihe der möglichen Folgeschäden und der Vergehen ist ja lang, dem Unrechtbewussten entgeht kein Haar in der Suppe, kein dunkler Fleck auf der weissen Weste, entgeht keine Gelegenheit, den andern auf die Finger zu klopfen und ins Gewissen zu reden. Denn wer moralisiert glaubt sich immer im Recht.

 

Das Problem ist nur: Ein bisschen recht haben sie eben schon. Einen kleiner Stachel bleibt manchmal doch zurück. Der Stachel, dass man ein so guter Mensch nun auch wieder nicht ist, dass man das Gutsein besser könnte, dass man sehr wohl weiss, dass es anstrengend ist, "gut" zu sein, dass es nicht leicht von der Hand geht und man sich gerne und schnell mit einer Kette von wenn und aber und ja und doch nein herausredet, wenn etwas gefordert wäre, dass die eigenen Interessen tangiert. Der Stachel, dass er viel zu oft stimmt, der folgende Satz:

 

"Am Anfang war das Wort. Und das Wort war eine Ausrede."

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1997 / Kolumne NLZ