Körperspielplatz

 

Es gab einmal unanständige Worte für unanständige Sachen, die sind jetzt längst nicht mehr unanständig, auch die dazugehörigen Worte nicht. Die Heimlichkeiten verlassen die abgedunkelten Räume und gehen an den Bühnenrand, räkeln sich im hellen Licht allgemeiner Aufmerksamkeit, wandern ab in Bücher, Zeitschriften, Fernseh- und Filmstudios. Die Münder bekennen unablässig alles, was so eine Lust sich ausdenkt und die gelenken Körper führen es vor: stolz, eifrig und so, als hätten sie gerade eben des Menschen Lust neu erfunden.

 

Das Ganze ist, wir nehmen es aufmerksam zur Kenntnis, eine nicht nur körperliche, sondern auch hochgradig verbale Befreiung. Und sie geschieht nicht an dunklen und unzugänglichen Orten, sondern vor unseren Augen und Ohren. In mannigfaltigen Fernsehgefässen etwa wird munter und ohne Scheu darüber geredet, wird ausgeplaudert, bekannt, analysiert und in die feinsten Erfahrungsverästelungen hineingefühlt. Die Türen sind offen, man lädt uns zur Besichtigungstour, überall dürfen wir hineinspazieren und in jede Nische gucken und staunen und ein bisschen neidisch werden. Ab und zu streiten sich vielleicht in uns die "höheren" Ansprüche mit der Neugier – dass die Ansprüche sich in der Regel durchsetzen, soll hier nicht behauptet werden.

 

Es gibt unbestreitbar Leute, die auf den schwindelnden Höhen des Intellekts, den Gang der Welt im Allgemeinen und Grundsätzlichen verfolgen, sozusagen im Obergeschoss der theoretischen und praktischen Vernunft und weder Zeit noch Musse haben, sich in Parterre oder Keller umzusehen, wo Gefühl und Trieb sich lautstark tummeln.

 

Der Trubel im Keller findet trotzdem statt und wer sich diesen anschaut, braucht sich inzwischen auch gar nicht mehr zu schämen oder zu entschuldigen und vorzugeben, ab und zu rein zufällig daraufzustossen. Denn was hier seinen Gang geht, bietet nicht etwa einfach einen vertieften Einblick in die Kunstformen des Triebes, sondern erhellt im Gegenteil etwas, das sonst gerne im Dunkeln bleibt: die menschliche Seele.

 

Zu dieser Sichtweise verhilft uns Morgenstern mit seiner schönen Bermerkung. dass der Körper die Übersetzung der Seele ins Sichtbare sei! Und deshalb, können wir nun folgern, nehmen die Leute, die uns die "Wa(h)re Liebe" (Vox) als "Liebe Sünde"(Pro7) "peep"mässig (RTL2) vorführen, im Grunde die höchst bedeutungsvolle spirituelle Aufgabe wahr, uns eine minutiöse Übersetzungsarbeit vorzulegen. An deren Ende entdecken wir nicht einfach den Körper in all seinen lustvollen Möglichkeiten, sondern in Wahrheit die menschliche Seele in all ihrer Schönheit oder Dunkelheit oder was auch immer darin zum Vorschein kommt.

 

Es wäre demnach ganz falsch, zu fragen, was denn das alles soll, was Leute so beredet in Wort und Tat als ihr Bestes geben – ist es Exhibitionismus, Narzissmus, Schamlosigkeit, Obsession, oder einfach Marktlogik –, sondern wir müssten uns ernsthaft fragen: Was will so ein Körper uns sagen? Von welcher Seele erzählt er uns?

 

Und es scheint, all diese Seelen können nicht genug davon kriegen, zu erzählen, denn endlich sind sie aus dem Gefängnis befreit, das ihnen der Körper jahrhundertelang war – dieses einengende, hinfällige Haus, das sie, so gut es eben ging, zu ignorieren hatten. Heute endlich kommen sie nach draussen, an die Oberfläche und der Körper ist nicht mehr länger Gefängnis, sondern Spielplatz. Sie müssen nicht länger kämpfen, sie dürfen jetzt spielen, wie die Kinder,  selbstvergessen, lustvoll und laut. So jedenfalls erzählen sie es uns, mit ihren Körpern.

 

Sollte Morgenstern Recht haben, dass wir tatsächlich im Sichtbaren des Körpers seine Seele entschlüsseln können, dann scheint es, die Seele zeigt sich am liebsten im Muskel, im Straffen und Glatten; sie schmückt sich gerne mit bunter Haut und ein paar Ringen und knappem Stoff; sie tanzt gerne, aber sie denkt auch gerne nach und erzählt davon. Und wenn es ein Mikrophon gibt, dann will sie sich enthüllen, gibt es gar eine Kamera, so dreht sie sich und wendet sie sich im Licht und zeigt ihre Schätze gern.

 

Probleme gibt es dann, wenn die Seele nicht mehr spielen kann, weil das Körperinstrument den Takt nicht mehr hält, den die Seele anschlägt. Oder wenn die Seele in den Spiegel sieht und erschrickt, weil sie keine schöne Seele mehr ist. Und wenn die Oberfläche der Seele plötzlich Falten schlägt und Flecken kriegt und ihre Elastizität verliert und sie merkt: die Bühne ist weg, der Applaus verhallt, die Scheinwerfer gelöscht, die Blicke schweifen anderswohin, die Diva ist tot.

 

Vielleicht ist es besser, wir glauben  Morgenstern nicht, glauben nicht, dass sich im Körper die Seele übersetzt, dass das Sichtbare das Wesentliche ist, die Währung, mit der wir bezahlen. Besser, wir glauben nicht, dass es so weit kommt, woraufhin die gesellschaftlichen Trends deuten: Dass der Körper der heiligste Nektar und die köstlichste Ambrosia ist. Wir wären arm dran, wenn dann eintritt, was unvermeidlich ist, dass nach viel zu kurzer Zeit, Nektar und Ambrosia ihr Verfallsdatum erreichen und wir alles dransetzen müssten, das zu ignorieren.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1997 / Kolumne NLZ