Fett ist der Tod und gutgelaunt

 

"Ich hab in diesem Jahrhundert etwas Fett angesetzt", sagt der Tod in Wolfgang Borcherts Erzählung "Draussen vor der Tür". Er ist nicht länger dürr, knochig und mager, fett ist er und gutgelaunt. "Das Geschäft ging gut. Ein Krieg gibt dem anderen die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit."

 

Die Fensterbank hat sich weiter gefüllt seither, was sind schon zwei Weltkriege, der Hass ist gefrässig und die ihn schüren sterben nicht aus. Auch der Tod macht Fortschritte, verbessert sein Werkzeug, hat die Sense weggelegt und mähnt inzwischen, je nach Finanzkraft der Auftraggeber, auf High-Tech-Niveau.

 

Gleichgültigkeit als Überlebenshilfe

 

Man kann aus diesem Fenster der Zeit sehen, problemlos, ohne an die Fensterbank zu rühren. Der Tod der anderen ist nicht der meine, so einfach ist das. Es tut mir nicht weh, wenn einem andern der Finger abgeschnitten wird, antwortet im Film Shoah ein polnischer Bauer auf die Frage, ob er auch Angst um die Juden gehabt habe. Er arbeitete Tag für Tag neben dem Konzentrationslager in Treblinka.

 

Leidensfixierung

 

Dem Christentum wird oft vorgeworfen, todesversessen zu sein, fixiert auf Leiden, und Schmerz; das Kreuz, sein zentralstes Symbol, wird dabei zur visuellen Nahtstelle zwischen Leiden und Errettung. Das Kreuz auf sich nehmen, leiden, Unrecht hinnehmen, Unterwerfung üben anstelle von Aufbegehren, Ergebung vor jeglichem Widerstand – diese Lektion hat man gelehrt und gelernt, unter Zuhilfenahme des Kreuzes. Auch in seinem Namen zu töten. Das ist wahr. So hat es funktioniert, für zu viele, zu lange.

 

Das Unrecht behält nicht das letzte Wort

 

Aber es blieb dennoch nie bei dieser einen Pädagogik der Unterwerfung unter das Unrecht, in diesem Symbol Kreuz wurde ebensosehr gegen die Verlassenheit der Leidenden opponiert, Leiden erinnert, nicht als Unabänderlichkeit, sondern als Unrecht, ein Unrecht, das jedoch nicht das letzte Wort behält. Nichts anderes ist Theologie, so der Philosoph Max Horckheimer, nichts anderes als die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibt, nichts anderes als die Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.

 

Ein Übermass an ethischen Ansprüchen

 

Viel scheint das nicht. Jahrhundertelang wurde denkend am Glauben gefeilt, damit alles zusammenstimmt, keine Lücke für den Zweifel bleibe, dem der kleinste Riss genügen könnte, um das Ganze ins Wanken zu bringen. Inzwischen wollen nur noch wenige ein festes Haus, das Jahrtausende hält, sind zurückgekehrt, wenn überhaupt, zum denkerischen Nomadentum, immer unterwegs, auf der Suche nach Wasser- und Futterplatz, die Zelte schnell abgebrochen, und neu aufgestellt. Selbst das scheinbar wenige, ist manchen eine Last zuviel.

 

In den Kirchen seien die ethischen Ansprüche überentwickelt, lese ich, weshalb sie ihre Attraktivität verloren habe, denn: Ethik ist furchtbar anstrengend.

 

Schon längst knechtet das Kreuz uns hier  zu keiner Leidensfixierung mehr; dafür gibt es die Nachrichten und die Tagesschau und die lehren uns eher das Weg- als das Hinsehen. Nicht zu langsam vergessen wir, sondern zu schnell, nicht zu mühsam verdauen wir, was wir sehen, sondern zu gut. Wenn es nicht so wäre, die Welt sähe anders aus. Eine Mehrheit nennt diese Verdrängungskapazität "Lebensfähigkeit". Auch das mag wohl stimmen. Die Perspektive der Opfer ist eine andere, aber es ist schliesslich ihr Finger, der abgeschnitten wird, nicht der unsere. Wem damit nicht wohl ist, wer solcherart Realitätssinn – so sind die Menschen eben! – für zynisch hält, ist jenem Laster verfallen, das man inzwischen verächtlich Moralisieren nennt. Und Moralisten, lese ich in der Weltwoche, haben kein Verantwortungsgefühl – sie denken nicht zuallerst an sich und die eignen.

 

Der geschminkte Tod

 

Im Romerohaus wurde vor kurzem ein musikalisches Filmgedicht ohne Worte gezeigt, ein Requiem für die 120 Millionen Soldaten, die in diesem Jahrhundert auf den Schlachtfeldern Europas starben.

 

Der Film ist eine Reise durch die Todeslandschaften der Kriegsfriedhöfe Westeuropas, von Sizilien bis an die Küste Frankreichs. Der Tod ist hier geschminkt und zeigt sich von seiner ordentlichsten Seite: der Rasen ist geschnitten, die Grabsteine und Kreuze stehen seit Jahrzehnten aufrecht und in Reih und Glied, Blumen gibt es und freundliche Engel. Der Tod, der alte Gleichmacher, ist jedoch in Grenzen verwiesen: unser Friedhof, euer Friedhof, unsre Toten, eure Toten; die Friedhofsgärtner wollten den Film nicht sehen, weil nicht allein ihre Toten, sondern auch die der andern darin vorkommen.

 

Kein Wunder ist der Tod so fett und gutgelaunt. Ein Wunder wärs, irgendwann einmal würde aus solchem Tod eine Lektion in Sachen Scham, Scham, es seit Jahrtausenden nicht anders gelernt zu haben.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1997 / Kolumne NLZ