Vom Zeitunglesen

 

Papier sei geduldig, heisst es. Das stimmt; was tot ist, erhebt keinen Einspruch mehr; keine unwesentliche Verbindung zwischen einer Zeitung und dem, was sie schwarz auf weiss in Worte kleidet – die "Unschuld" des Papiers, so weiss, schwarz die Buchstaben, die meist Trauer tragen.

 

Wo anfangen? Beim Holz? Früher natürlich: Beim Samen, beim Wind, der Erde; die Sonne nicht vergessen und den Regen! Aber was soll's; wen interessiert das schon? Wer Zeitung lesen will, will Zeitung lesen und sich nicht von Bedingung zu Bedingung zurücktasten, um am Schluss über Holzverarbeitung nachzudenken und Tastsinn und die Tätigkeit des Sehens, vom Hirn im Allgemeinen ganz zu schweigen, nur um schlussendlich vielleicht bei der Entstehung von Leben auf diesem Planeten zu landen. Worum ging es eigentlich? Und wie passen wir hier hinein?

 

Die Vorstellung, was geschähe, wenn mit einem Male alle ins Grübeln gerieten, könnte reizvoll sein: ein weltweiter allgemeiner Stillstand, weil allen alles plötzlich vom Vertrauten ins Befremdliche rutschte und dabei eine Frage um die andere mit sich zöge. Keine Klarheiten mehr, das Vertrauen ins Selbstverständliche schwindet, nicht einmal das, was unter der eigenen Haut seinen Gang geht, erlaubt den Rückzug auf festen Boden. Schon allein das, was die tägliche Arbeit unseres Immunsystems angeht, hat unser Innenleben Thrillerqualität. Nicht gerade etwas für Beschaulichkeit!

 

Womit wir wieder bei der Zeitung wären.

 

Es gibt Leute, die schauen morgens hinein, einen kurzen Blick wenigstens auf das Wesentliche, unter Umständen genügen auch die Fussballresultate. Vor oder nach dem Mittag dann eine intensivere Beschäftigung, es sei denn das Blatt bestünde vor allem aus Bildern und Schlagzeilen und Fettgedrucktem und man wäre schon im ersten Gang durch.

 

Es kann auch geschehen, dass ein besonders interessiertes, neugieriges Wesen am Abend in aller Ruhe einen Artikel liest und sich dazwischen ab und zu einen eigenen Gedanken gönnt. Das kommt vor!

 

Manchmal macht es sogar den Anschein, als wäre Zeitungslektüre gar nicht, was sie vorgibt zu sein: der Wunsch nach Information. Manchmal legt sich die Vermutung nahe, es handle sich, wenn auch unbeabsichtigt, um eine neuzeitlich mutierte Form des Brevierlesens, um eine Ersatzform jener alten christlichen Tradition des "immerwährenden Betens", im Stundentakt, täglich wieder neu. Natürlich gibt es im Brevier keinen Ausland- und Inlandteil, keine Sport- und Kulturseite und auch das Wetter ist nicht von Interesse, es sei denn es handle sich um Sintflutliches oder eine göttliche Strafmassnahme mit Feuer und Schwert. Das christliche Stundengebet enthält vielmehr Psalmen, Bibeltexte und Hymnen, was sich von der Zeitung nicht behaupten liesse. Das schliesst Verwandtschaft dennoch nicht aus; wer je einen Psalm gelesen hat oder die biblischen Propheten, weiss, dass das Bild der Welt, das sie im Klagen und Protestieren zeichnen, so anders als das unsere nicht ist, auch wenn wir uns heute gewissermassen auf einer anderen zeitlichen Etage dieses Weltgebäudes befinden.

 

Wenn wir die Zeitung lesen, Tag für Tag, als sei's unser Stundengebet, unsere Meditation der Information über den Stand der Dinge, dann wären die Schlüsse, die wir daraus zu ziehen hätten so weit entfernt nicht von einem Klagepsalm. Bloss dass dort der Triumph der Täter über die Opfer, des Sachzwangs über die Phantasie, des Hasses über die Vernunft noch zum Schluss führte, es könne doch nicht in alle Ewigkeit so bleiben und es würde ganz gewiss ein Tag kommen, denn er müsse kommen, an dem das alles ein Ende haben wird. Diese Träume gehören dorthin, wo sie hingehören: zu den Träumen! Manchmal träumen auch wir solche Träume, manche von uns.

 

Was wir tun, wenn wir die Zeitung auseinanderfalten, uns durch die Welt(en) blättern, um sie hernach jeden Tag neu ins Altpapier zu werfen, hat mit solchen Täumen wahrscheinlich nichts zu tun, eher mit dem Gegenteil: Alles, was geschieht, ist schon immer geschehen, geschieht jetzt und wird wieder geschehen. Nichts wird sich je ändern, weil sich die Spezies Mensch nicht wesentlich zu entwickeln scheint, zwar anders wird, aber nicht besser. Man braucht schon einen genauen Blick, dankbar für jede noch so kleine Kleinigkeit, die dieser Sicht widerspricht, um nicht zu verzweifeln. Der grosse Rest gehört zu jener Fähigkeit, die Verdrängung heisst und hilft, trotzdem in aller Ruhe eine Zeitung zu öffnen, den neuesten Bericht aus dem neuesten Krieg zu lesen, "Hunderttausende auf der Flucht" zu lesen und "eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an" und wissen, dass das gelogen ist, denn sie ist schon da, und weiterzublättern zu den Vorgängen im grossen Rat und schnell weiter zu den Sportseiten und die Hunderttausende sind glücklicherweise schon weitergeflüchtet, vielleicht zum nächsten, der davon liest. Und jeden Tag tun wir das: ein kurzer Schock, ein schnelles Erinnern – wo liegt nun schon wieder dieses Ost-Timor und waren es eigentlich die Tutsi oder die Hutu, die in Ruanda ... oder war es nicht Burundi? Daneben addieren wir die Arbeitslosen und die Arbeitsplatzreduktionen und die Börsengewinne und auch die Punkte in der Gruppe A oder B der Champions League. Wir sind vielseitig, geübt und vergesslich. Zu unserer Schande und zu unserem Glück.

 

Wir lesen die Zeitung, als wär's ein Brevier – Einblicke in die Welt, die Kunde über das, wie es ist und weshalb, darüber wie man gut lebt oder schlecht, glücklich oder unglücklich, hoffnungsvoll oder verzweifelt. Wer das Brevier las, tat es, um seine Pflicht zu erfüllen und um ein besserer Mensch zu werden.

 

Wer Zeitung liest, tut es, um seine Informations-Pflicht zu erfüllen, seine Neugier zu stillen und den Wissensdurst, manchmal, vielleicht sogar unbeabsichtigt, um sich zu erleichtern: die Welt ist, wie sie immer in etwa war und die schlechte Nachricht hat wieder einmal die andern ereilt.

 

Wer Zeitung liest, hat in der Regel nicht vor, ein besserer Mensch zu werden, aber es kann ihm und ihr trotzdem passieren, dass im genauen Hinschauen auf das, was geschieht, der Wunsch auftaucht, nicht nur die Welt recht zu sehen, sondern in der Welt nach dem Rechten zu sehen. Und das wäre für den Anfang nicht schlecht.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1996 / Kolumne NLZ