Der erste Mensch – oder was heisst Fort-Schritt?

 

"Knochenjäger lieben es, gesenkten Hauptes durch die Wüste zu gehen", lese ich in einem Artikel über die Suche von PaläoanthropologInnen nach den Ursprüngen des Menschen. Der Satz bleibt aus unerklärlichen Gründen haften. Vielleicht weil er schön klingt, poetisch beinahe, in jedem Fall schöner ist als das Produkt dieser Poesie, das Vormensch genannt wird und rekonstruiert nicht viel anders aussieht als ein haariger Affe, der auf zwei Beinen geht.

 

Dass der Mensch mit solchen nicht unbedingt ansprechend zu nennenden Tieren in verwandtschaftlichem Verhältnis stehen könnte, schockierte einstmals das diesbezüglich biblisch verwöhnte christliche Publikum, das den Menschen bis zu diesem Zeitpunkt unbestritten als Krone der Schöpfung betrachten durfte. Obzwar auch die Bibel den Ursprung des Menschen nicht gerade himmlisch schönte, sondern gründlich erdete – adama, Erde, ist der Stoff, aus dem die Menschen gemacht –, so entstammte die Seele des Ganzen zumindest einem Bereich jenseits irdischer Materie. Heutzutage stört sich niemand mehr an diesem Ursprungs-Affen, von Interesse ist jetzt, was sich aus den Knochen lesen lässt und ob das älteste bisher gefundene Wesen (3,2 Millionen Jahre), genannt Lucy, nicht doch eher ein männlicher Luzifer war. Bloss, inzwischen gibt es noch ältere Funde menschenähnlicher Wesen, die auf 4,4, Millionen Jahre geschätzt werden ... und Lucy kann getrost und unbehelligt ihrer vergänglichen Wege gehn.

 

Das Glück des aufrechten Gangs

 

Das Glück des aufrechten Ganges nennen wir jenen Entwicklungsschritt, der dem Vormenschen, der auf seinen vier Beinen bis anhin nicht viel weiter als seine Nasenspitze oder bis zu den nächsten Baumwipfeln sah, am Horizont die Welt aufgehen liess.

 

Reibungslos schien dieser Schritt nicht vonstatten gegangen zu sein, und das Bild einer Evolution, die sich Schritt für Schritt auf einer geraden Linie dem modernen Menschen genähert hat, gerät immer mehr ins Wanken. Was wir heute sind, ist offenbar die Folge einer Vielzahl gescheiterter Versuche, aus dem mehr oder weniger zufällig der Homo sapiens als einziger Überlebender eines breitangelegten Experiments hervorging.

 

Die Hände frei, aber wozu?

 

Nicht alle teilen diese Obsession auf Anfänge. Auch Zukunft kann die eignen Phantasien besetzen. Es gibt nicht nur Leute, die scharren unter dem Wüstenhimmel gesenkten Hauptes nach alten Knochen, sondern es gibt auch solche, die konstruieren den Menschen metallisch neu. Auf zwei Beinen gehn und ein bisschen Grosshirn zulegen, das reicht nun einfach nicht mehr aus, um stolz auf unsereins zu sein. Roboter sind unsere Zukunft, der nächste Schritt der menschlichen Evolution, so lautet das wissenschaftliche Credo gewisser Eiferer, die es gerne sähen, der alte Homo sapiens machte Neuem Platz.

 

Aber auch wer nicht von Robotern, die uns ablösen sollen, träumt, hat vielleicht noch Entwicklungsschritte vor sich. Eine Evolution des Hinterteils und des Greifapparates wäre, was wir jetzt bräuchten. Eine dem Sitzen angepasstere Wirbelsäule, zwei Ärmchen und kräftige Finger, mindestens drei, damit die Maus am PC gut zu bedienen ist.

 

Natürlich wären zusätzlich zu solchen biologischen Entwicklungen auch ein paar gesellschaftliche notwendig. Es braucht ja nach wie vor Exemplare der alten Art für jene notwendigen Arbeiten, die am Computer noch nicht zu erledigen sind. Eingefädelt ist dies ja schon durch die gegenwärtige ökonomische Entwicklung, die mit ihrer Herausbildung einer Zwei-Klassen-Welt – Reiche und Arme, Teilnehmende am Wirtschaftsprozess und Ausgeschlossene, Notwendige und Überflüssige – hier schon vorarbeitet und eine Aufteilung der Welt in solche, die an die neue digitale Welt angeschlossen sind, sie im Griff haben und solche, die davon abgeschnitten sind, erleichtert.

 

Körpermutationen

 

Wir leben in einer Welt verschiedenartigster Bewegungen. Rückschau und Re-Konstruktionen, Fixierung auf Zukunft und sie begleitende Konstruktionen bestehen neben Versuchen, am Gegenwärtigen herumzubasteln. Dem Körper als unserer Hauptoperationsbasis wird dabei besondere Aufmerksamkeit zuteil. Da gibt es mindestens in den wohlhabenden Zentren der Welt einen allgemein diagnostizierten Körperkult, eine Obsession auf Perfektionierung des Vorhandenen (wenn doch nur auch das Hirn ein Muskel wär und durch Krafttraining zu stärken). Daneben oder parallel dazu findet jedoch eine Ent-Körperlichung statt, oder zumindest eine Reduzierung des Körpers auf minimale Handlungsabläufe und Bewegungsräume, ein Prozess, der dann durch freizeitliches Sporteln wieder ausbalanciert werden muss.

 

Vielleicht ist diese Bewegung aber gar nicht so gegensätzlich, vielleicht ist in der Tendenz zur Vernachlässigung und kompensatorischen Neukonstruktion des Körpers – durch Sport, Essverhalten, Fitness, Krafttraining etc. – etwas ähnliches im Gange: die Verabschiedung vom Körper als Schicksal, als unbeeinflussbare Laune der Natur. Die Verabschiedung vom Zufall und die Aneignung einer neuartigen Gestaltungsmacht.

 

Lucy oder Lucifer waren Produkte eines Experimentes der Natur. Ein Arnold Schwarzenegger oder eine Cher sind Produkte des Geistes, der sich die Materie zu seinen Zwecken formt – mit Kraftmaschinen, chemischen Substanzen und Chirurgie. Es gibt sogar auf diesem Planeten eine Person weiblichen Geschlechts, die versuchte sich sozusagen an Barbie heranzuoperieren. Geglückt ist es nicht ganz, weil eine Frau, die aussieht wie eine Barbiepuppe weder atmen noch gehen könnte: der Oberkörper bietet den notwendigen Organen keinen Platz und die Beine sind zu lang – wahrscheinlich müsste sie wieder auf allen vieren gehen ... Da war Lucy schon mal weiter.

 

Der Experimente zur Überwindung der mangelhaften menschlichen Natur und Physis gibt es viele. Ein ganz verrücktes, wenn auch nicht gänzlich überraschendes ist jenes in Japan virtuell hergestellte Top-Model namens Kyoko Date. Cybergirl nennt man diese computerisierte Männerphantasie, die "stark und trotzdem umgänglich ist", drei Sprachen spricht, boxen kann, aber auch lange Beine und einen grossen Busen aufweisen kann. Sie hat 1,4 Millionen Entwicklungskosten verursacht, braucht aber hinfort keine Gagen mehr, um für Bier und Lippenstift zu werben.

 

Die Auferstehung als Engel im Cyberspace

 

So wird uns unter der Hand der Cyberspace beinahe zu einem neuen Paradies, dessen Pforten allen mit Computern, Modems und Internet-Zugang offenstehen. Ein Mausklick genügt und der Traum beginnt – wer immer hinter dem PC sitzt, ob alt oder jung, krank oder gesund, weiss oder farbig, Mann oder Frau, niemand kümmert es. Gehörten im Mittelalter die Engel noch in die Gefilde des Himmels, so bevölkern sie heute das Internet: "Millionen von Cybernauten 'surfen' hier, ihrer Körper entledigt, in einem idealisierten immateriellen Reich. Als Wesen des Äthers sind die Cybernauten, wie die Engel, aller physischen Begrenzungen enthoben. Sie sind frei von Missbildung, Krankheit und Hässlichkeit. Alle Gebrechlichkeit des Körpers bleibt beim Eintritt in den Net-Space zurück. Fettsucht, Akne, Kleinwuchs, Kurzsichtigkeit ... Im Cyberspace, sagen die Freaks, kann man einfach 'sein' – eine reine Seele, die körperliche und nationale Grenzen überschreitet."(Ehre sei Gott im Cyberspace, ZEIT, 24.Mai 96)

 

Schaut man sich die Entwicklung des Homo sapiens an, so bleibt die Frage offen, ob dieses Experiment der Evolution wirklich geglückt ist und ob nicht jene Affen alles in allem besser beraten waren, die Funden gemäss zwar den aufrechten Gang probten, aber scheiterten und einen toten Ast der Evolution bevölkerten, sich eventuell gar das Laufen wieder abgewöhnten, um die alten Affen zu bleiben. Wir Zweibeiner aber, die Hände frei für so manchen Un-Sinn, müssen unseren Weg zwischen Ursprungsaffe und Engel im Cyberspace suchen und nur eines ist gewiss: Finden werden wir ihn nicht, wenn wir bloss gesenkten Hauptes durch die Wüste gehen.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1996 / Kolumne NLZ