Wenn bloss die Leute nicht wären

 

Sie gehen ins Kino. Sie wollen sich einen Film ansehen. Das klingt doch eigentlich vernünftig: Sie gehen ins Kino, um sich einen Film anzusehen. Sie stellen jedoch fest: Es gibt Leute, die gehen ins Kino, um Popcorn zu essen und um zu reden. Natürlich könnten sie das auch anderswo tun, vielleicht in einem Restaurant, bloss gibts da ja kein Popcorn und vor allem: keine Filme.

 

Diese Leute sitzen natürlich immer und ausschliesslich vor ihrer Nase, oder genau hinter Ihnen. Zu nahe jedenfalls und unausweichlich. Sie essen ihr Popcorn, die Tüten sind riesig, sie hören es rascheln, sie hören es zwischen ihren Zähnen knirschen, jedes einzelne davon. Diese Leute, sie essen nicht nur, sie reden auch, sie können nicht anders. Die Worte müssen hinaus, das Popcorn hinein, pausenlos.

 

Sie gehen ins Kino, sie wollen sich einen Film ansehen. Sie stellen fest: Es gibt Leute, die gehen ins Kino, um Spass zu haben. Spricht etwas dagegen? Solange die Filme zu Popcorn passen und Cola und Vanillecornet? Vielleicht sitzen Sie einfach in den falschen Filmen, wenn Ihnen das Popcorn nicht passt. Vielleicht pflegen sie eine Haltung der Neugier und Ernsthaftigkeit, die in Kinos gehört, deren Filme nicht popcorncompatibel sind. So bräuchten Sie denn auch gar keine Kinozeitschriften mehr zu konsultieren, keine Filmbesprechungen mehr zu lesen: Sie gehen einfach in Kinos, wo's kein Popcorn gibt und sie wissen: die Filme müssen gut sein.

 

Versteifen wir uns nicht auf Popcorn. Ärgern kann man sich auch anderswo. Sie gehen ins Theater, sie wollen eine Oper hören. Er sitzt hinter Ihnen. Er ist nicht allein, er hat jemanden mitgebracht. Er hat kein Popcorn dabei, aber ein Programmheft. Eine Oper lang erklärt er seiner Nachbarin, was sich auf der Bühne tut; wer jetzt gerade singt und was. Sie beginnen nervös zu werden, sie beginnen die Ohren zu spitzen, ihr Adrenalinspiegel steigt, nicht wegen Jago oder Othello, sondern weil sie eben die schönste Arie verpassen, während er hinter ihnen seiner Nachbarin das Programmheft vorliest. (Ist sie Analphabetin?) Während vorne auf der Bühne Othello seine Desdemona erwürgt, beginnen sie auf den hinteren Rängen an der Menschheit zu zweifeln und jenem Mann Recht zu geben, der die Menschen für einen üblen Haufen hielt. Sie kreieren gerade ein eigenes Drama, so lächerlich geringfügig der Anlass auch sein mag. Othello verzweifelte wegen eines Taschentuches, ihnen genügt ein Programmhaft.

 

Gut, vielleicht sind Sie einfach zu pingelig, können die Verhaltenszügel nicht schleifen lassen; es überkommt Sie zu häufig und zu Unzeiten jenes Laster, das gut und gerne als neue Todsünde durchgehen könnte: Ernst. Oder umgekehrt: Sie verstossen ganz und gar unanständig gegen das Gebot, sich zu amüsieren.

 

"Sei schlau, hab Spass", so formuliert das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" das Credo der 90er Jahre. Unübersehbar dominierten Formen des Genusses, heisst es da. Auf Oberflächenreize abgerichtete ErlebniskonsumentInnen seien wir geworden, die, einer Sucht vergleichbar, angwiesen sind auf ihre täglichen Rationen psychophysischer Stimulation: Nervenkitzel, Spannung, heftiger Sinnesreiz, rascher Genuss, krasse Komik, Action. Vergnüglicher Nihilismus wird zum Inbegriff des gewitzten Durchkommens in einer Welt, die doch nicht zu retten ist. Unterhaltende Funtasie tritt an die Stelle verändernder Fantasie.

 

Aufklärendes Denken, Grübeln und Sinnieren ist wie auf Stelzen gehen, gibt nicht das rechte Feeling. Nüchternheit wird zu Arroganz, verführen muss man, auch zu dem, was man Moral nennt. Sollen und Müssen heissen die Spielverderberinnen für Augenblicksmenschen, die es nach Ereignissen gelüstet. Wenn schon die Zumutungen der Realität, dann bitte mit Vergnügen! Lustvoll muss das Denken sein, unterhaltend das Argument, Spass muss er machen, der Protest. Die Regenbogenkrieger von Greenpeace sind nicht umsonst Helden der Aktion, der kinogerecht aufbereiteten Emotion.

 

Spass ist vielleicht aber alles in allem auch nicht viel mehr als ein Wort, das versucht, Ordnung in unsere Wahrnehmungen zu bringen. Ein Rockzipfel bloss der Wirklichkeit, deren grosser Rest unserem Griff entgleitet.

 

Das Wort mag plausibel sein für den Süssstoff einer Zivilisation, die immer mehr zur "Zuvielisation" gerät. Neu ist diese Zutat jedoch nicht. Der Tanz auf dem Vulkan hat Tradition. Vergnügen gegen Verzweiflung zu setzen, ist nicht das Schlechteste, was man tun kann, um selbst über die Runden zu kommen. Gefährlich ist es ja nicht, Spass zu haben, gefährlich ist höchstens das, was man möglicherweise dazwischen tut: eben nichts. Gegen Spass ist nichts einzuwenden, wenn nur das Aussitzen der Pausen zwischen Spass und Spass nicht zur einzigen Alternative des Vergnügens wird.

 

Es gibt Leute, die fürchten, wir amüsierten uns alle zu Tode und es gibt Leute, die fürchten nichts mehr als den tödlichen Ernst. Für erstere sind wir bloss noch Einschaltquotenpartikel, angestöpselt an eine gigantische Massenmedienmaschinerie, für letztere missmutige Langeweiler, die mit öden Katastrophenlitaneien denen, die sich zu vergnügen wissen, den Spass verderben. Als ob es nichts gäbe zwischen der "Leichtigkeit" des Vergnügens und der "Schwere" von Veränderung, oder des Glaubens daran, den man sich nicht erspart.

 

Es existiert etwas, man nennt es Ironie, Witz, Humor, nicht Spass, und es hilft, auch ohne Weltvergessenheit, zu (über)leben. Eine Mischung aus Vergnügen und Ernst, man könnte sie Heiterkeit nennen; etwas, das auf das Nachdenken folgt, Spass, so scheint es, ersetzt es.

 

Heiterkeit nach dem Denken, Spass anstelle des Denkens? Eine vorschnelle Alternative vielleicht. Aber entlastend, manchmal. Im Kino beispielsweise, angesichts der Popcornesser und ihrem Geschwätz, das einen geradezu zwingt zur Misanthropie. Der Spiegelbericht nannte diese vergnügliche Spezies Mensch die"Spassgeneration". Na ja, haben Sie sich vielleicht gedacht, wieder einmal eine dieser saloppen Analysen und diagnostizierten Trends, aufgebläht auf das dreifache des Faktenwertes, interessant, aber nicht unbedingt wahr. Jetzt aber, da sie genau vor ihrer Nase ihre Spassigkeit entfalten – mit ihrem Lachen, das zu schrill, ihrem Flüstern, das zu laut, ihrem Kommentar, der zu dumm ist – da kann es auch Ihnen, die Sie dem Lachen keinesfalls abgeneigt sind, passieren, dass Sie, stillschweigend natürlich, bösartig werden und gerne glauben möchten, dass die Welt ein schöner Ort sein könnte ... wenn bloss die Leute nicht wären.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 1996 / Kolumne NLZ