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Wie das Velo zu seiner Seele kommt
Hat ein Velo eine Seele?
Ja, hat es, sagt Désirée Belem.
Denn es bekommt eine, bei ihr zu Hause in Burkina Faso. Die Seele des Velos ist, dass es Leben schafft, in Burkina Faso und anderswo in Afrika.
Eine ungewohnte Vorstellung. Fremd für nüchterne Leute und in einer Welt, in der bereits die Seele des Menschen nicht unbestritten bleibt. Was, bitte, soll eine Seele sein? Und wo soll die liegen? Kein Problem für Romantiker. Aber für den ernüchterten Rest?
Wer nicht weiss, wo Burkina Faso liegt, schaut im Atlas nach und findet es im nördlichen Afrika. Aber bei der Seele helfen weder Anatomie noch chirurgische Instrumente. Man sieht sie nicht.
Und schon gar nicht bei einem Velo.
Dass Menschen hochkomplizierte Wesen sind, ist nicht zu leugnen, aber ein Velo? Alles, was ein Velo ausmacht, liegt offen da, klar sichtbar, ohne Geheimnis. Gummischläuche, Ketten, Speichen, mancherlei Gestänge, Pedale, Sattel. Wo soll hier eine Seele sein?
Das Velo hat aber eine, behauptet Désirée Belem, denn es bekommt eine, bei ihnen in Burkina Faso. Und wie das? Gibt es Veloseelen etwa nur in Afrika? Haben wir wieder einmal etwas Wichtiges vergessen, verloren, durch Aufklärung entsorgt? Fehlt unseren Velos etwas? Fehlt uns etwas?
Das interessiert Désirée Belem wahrscheinlich kaum, ist nicht ihr Problem. Ob uns etwas fehlt? Sicher. Vieles sogar. Aber wir haben auch von zu Vielem viel zu viel. Velos beispielsweise, alte, nicht mehr gebrauchte. Das interessiert sie. Damit kann sie etwas anfangen. Unser Zuviel wird an einem anderen Ort zum Wenigen, das überleben hilft. Das hat zwar etwas Beschämendes, weil sich aus unserem verschenkten Abfall das Abfällige nicht ganz wegdenken lässt. Und doch ist es nicht jenseits von Stolz. Die Velos, die bei uns vom Projekt „Vélos pour l’Afrique“ gesammelt, in Einzelteile zerlegt und in Containern nach Burkina Faso verschickt werden, mobilisieren nicht nur Phantasie, Solidarität, ökologisches Bewusstsein, sondern machen Menschen in ihrer mühsamen täglichen Überlebensarbeit auch konkret mobiler, vergrössern Lebensradius und Arbeitsmarktchancen, schaffen Arbeitsplätze für Behinderte, kreieren ihnen neue, angepasste Gefährte, produzieren dank kostenlosem Material Velos, die erschwinglich sind und ermöglichen vielen Leuten ein angemessenes Einkommen in einem der ärmsten Länder Afrikas. Eine ausgezeichnete Idee, ausgezeichnet nicht ohne Grund mit dem ersten "Nord-Süd-Preis".
Was uns vielleicht trotz allem ein bisschen beschämt, ist in Burkina Faso gleichzeitig Grund für Stolz: „Erstmals bringt der Süden eine bedeutsame Lösung für Probleme des Nordens“, sagt Désirée Belem in ihrer Preisrede. Nicht, indem er uns unsere giftigen oder gefährlichen Abfälle abnimmt und vergräbt, sondern indem er einem dienstbaren und genügsamen Gerät zu neuem Leben verhilft. Und damit auch ein wenig sich selbst. Ob Drahtesel oder Stahlross, es fährt. Braucht kein Benzin, stinkt nicht, verschmutzt nichts, hat überall Platz und lässt sich notfalls tragen.
"Vélos pour l’ Afrique" ist ein „bestechend einfaches“ Projekt, so Röbi Koller, eines der prominenten Jurymitglieder, an der Preisverleihung dieses ersten Nord-Süd-Preises vom 13. Januar im RomeroHaus Luzern. Stifter des Preises sind die Bethlehem Mission Immensee und das RomeroHaus. Überzeugend einfach ist das Projekt, trotzdem ungewöhnlich. Klein und gleichzeitig gross in seiner Art. Die Welt verändert es nicht. Aber das macht nichts. Es ist, was es ist, und das reicht, um zu bestechen.
Der Nord-Süd-Preis nennt sich „Preis wider das Vergessen“. Wider das Vergessen des Südens, seiner Probleme und unserer Mitschuld und -verantwortung. Wider die Ohnmacht könnte man ihn auch nennen. An diesem 13. Januar wird er das: eine Kraft-Spritze mitten in die matten und immer wieder enttäuschten Hoffnungen. Ab und zu gelingt etwas! Ab und zu fügen sich Ideen und Menschen zu einem überzeugenden Ganzen. Inseln? Sicher. Momente? Vielleicht. Aber glückliche!
Beteiligt an diesem Projekt ist nicht nur die Behindertenorganisation ECLA (Etre comme les autres) aus Burkina Faso, sondern auch die Velorecycling-Werkstatt „Drahtesel“, in der 35-40 erwerbslose Frauen und Männer Arbeit finden. Je nach Eignung reparieren sie ausgemusterte Velos, die über den Fachhandel verkauft werden oder kreieren aus alten Velobestandteilen originelle Accessoires, Gebrauchsgegenstände und Schmuck. Im Projekt "Vélos pour l’Afrique" exportiert Drahtesel Recycling-Velos aus der Schweiz nach Burkina Faso, wo wiederum 100 Arbeitsplätze, vor allem für Behinderte, entstanden sind.
Was es bei uns dazu braucht: eine Annahmestelle für die Velos, einen Platz, um sie zu lagern, bis sie einen Container füllen, Qualitätskontrolle und Zerlegen der Räder. Bern macht es vor, andere Städte könnten sich durchaus anstecken lassen.
Und irgendwo dort in Burkina Faso bekommt es dann seine Seele, das neu zusammengesetzte, alte Velo aus der Schweiz. Es sichert Überleben, ermöglicht als beinahe einziges Fortbewegungsmittel Mobilität und Warentransport. Nichts, was nicht auf einem Velo Platz finden könnte. Sogar eine Seele. Es ist fahrendes Glück und besseres Leben. „Unabhängig von Alter oder Qualität wird Ihr Velo bei uns eine Seele finden, die ihm neues Leben einhaucht, ewiges Leben.“(Désirée Belem)
Ewiges Leben? Wenn man sieht, wie aus dem Wenigen viel wird, aus Abfall wundersames Gefährt, dann glaubt man zwar noch nicht zwingend an die Velo-Ewigkeit, aber kann sich vielleicht dem Satz des Schriftstellers und Kindergärtners Lorenz Pauli anschliessen:
„Ich glaube nicht an die Reinkarnation. Ausser bei Fahrrädern“.
Silvia Strahm Bernet
© Silvia Strahm 2003 / Kolumne NLZ |
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