Von Engeln und Zauberern

 

Ich kann mit Engeln nicht viel anfangen. Vielleicht ein bisschen, aber eigentlich eher nicht. Mit Harry Potter auch nicht. Was die beiden miteinander zu tun haben? Ich weiss nicht, nur dass sie allgegenwärtig sind, die Engel und Harry Potter. Beide scheinen irgendwie unwiderstehlich, gerade für Erwachsene.

 

Natürlich ist nicht jeder Harry-Potter-Fan einer, der sich gleichzeitig Engel ins Fenster hängt, aber es scheint irgendeinen magischen Zusammenhang zu geben zwischen den geflügelten Himmelswesen und den zaubernden Kindern, und wenn es nur die Tatsache ist, dass sie sich in Welten bewegen, die sich dem greifbar Wirklichen entziehen.

 

Ich nehme zur Kenntnis, ich bin ein Muggel. Das ist eine, die Harry Potter nicht kennt. Ein Art Banausin, vielleicht sogar ein Dubbel. Ich nehme weiterhin zur Kenntnis, dass Harry Potter gegen böse Monster kämpft, Rätsel löst, auf Besen fliegt, das Internat Hogwarts besucht, wo er, ein Kind von Zauberern, das Zauberhandwerk erlernt und dass sein Lieblingsspiel Quidditch heisst. Im Internet kann ich sogar die Zaubersprüche nachlesen, mit denen man alles mögliche und wünschbare tun kann. Ich nehme zudem zur Kenntnis, dass meine Kenntnisse in Sachen Harry Potter zu rudimentär sind, um mir ein Bild machen zu können.

 

Aber das trifft auch auf die Engel zu.

 

Ich bin noch keinem begegnet oder habe es nicht bemerkt, was Engel, wie es heisst, so an sich haben: Dass man es womöglich nicht bemerkt, wenn man einem begegnet. Als eine, die mit Schutzengeln aufgewachsen ist, müsste ich das eigentlich wissen, müsste wissen, dass hier etwas am Werk sein mag, auch wenn man nie auch nur eine Flügelspitze davon gesehen hat.

 

Öffnet man die Homepage von Harry Potter – jene von Warner Brothers – dann wird einem die Zeit, während das Ganze geladen wird, mit einer geflügelten goldenen Kugel vertrieben, die ab und zu flatternd ihre weissen Flügel bewegt. Hätte sie ein Gesicht, sie sähe aus wie eine Putte, jenes geflügelte Kindergesicht, das tausendfach die Kirchen des Barock bevölkert.

 

Vielleicht haben sie ja doch etwas miteinander zu tun, Harry Potter und die Engel und wenn es nur der Wunsch ist, sie möchten doch das entzauberte Alltagsgetriebe mit etwas Mystik und Magie bereichern. Man muss weder an die Existenz von Engeln glauben, noch an Zauberer/innen, um sich ab und zu in Welten zu wünschen, in denen das Böse noch unangefochten böse heissen und ein Monster sein darf und vielleicht gar zu besiegen ist und in denen der Himmel ab und zu auf Erden kommt, in der Form von Engeln.

 

Harry Potter ist eine Art fiktiver Superstar, alle seine Bücher sind Bestseller; im Vergleich dazu sind die Engel eher eine Art Longseller, auch wenn sie seit einigen Jahren eine eigenartige Blütezeit erleben. Trotzdem: Es gibt sie seit Jahrtausenden, in allen Kulturen – als Eros, Hermes, Sphinx, Eirene, Nike, Cherubim oder Seraphim . Das hindert sie aber nicht, sich in Büchern und Filmen erneut ins Rampenlicht zu stellen. Im Himmel über Berlin, in City of Angels, Dogma, Angel Eyes und wie die Filme alle heissen, überall kommen sie vor, die Engel, als Gottesboten, Schutzfiguren, oder als erdwärts Reisende in Sachen Reorganisation irdischer Belange – sozusagen göttliche Organisationsentwickler im Betrieb Welt, nur dass der Auftrag geheim ist und dem irdischen Personal oft verborgen bleibt.

 

Natürlich liegen Welten zwischen einem Renaissance-Engel und dem zaubernden Harry Potter, aber beiden obliegt die Aufgabe, die Welt in Ordnung zu bringen und das Rätsel lösen zu helfen, das das Dunkel in und zwischen Menschen umgibt. Dass die Engel für gläubige Menschen nicht einfach hilfreiche Figuren in schönen Geschichten sind, sondern durchaus in einer anderen Form von Wirklichkeit existieren, während Harry Potter nichts als eine Geschichte zu sein verspricht, so ist wahrscheinlich für die Mehrheit, die an Engeln hängt oder Harry Potter verschlingt, dieser Unterschied unerheblich. Es geht nicht ums Glauben, sondern ums Träumen. Um das Zurückversetztwerden in eine Welt, in der das Wünschen noch geholfen hat.

 

Es liegen aber nicht nur Welten zwischen einem Renaissance-Engel und Harry Potter, sondern auch zwischen einem Renaissance-Engel und jenen geflügelten Abkömmlingen, die in Warenhäusern und Schaufenstern heuer wieder auf oder besser über die Welt gekommen sind. Trotzdem werden sie in Form von Dekorationen und Kerzenständern in die guten Stuben geholt. Noch in ihrer eher primitiven Form scheinen sie die weihnächtlichen Heimgestaltungswünsche zu beflügeln und auch hinreichend zu befriedigen.

 

Jene, die der innere Zusammenhang von Harry Potter und den Engeln noch nicht überzeugt hat, mögen sich noch einen letzten Versuch anhören: Die himmlische Engelsschar besteht nicht nur aus schönen androgynen Mischwesen, sondern auch aus Kindern, aus den kleinen bildhaften Abkömmlingen des Gottes Eros, den bereits erwähnten Putten. Sowie einst die kleinen Eroten Götter und Menschen umschwirrten, betrieben die Putten vor allem im Barock zu Hauff ihr oft eher flegel- als engelhaftes Unwesen. Sie stehen mit ihrer Heiterkeit, ihren Streichen und ihren manchmal ziemlich unanständigen Verhaltensweisen für ein Christentum, in dem der Witz durchaus seinen Platz hat, sogar einen himmlischen. Die Kinderengel des Barock stellen der selbstgefälligen Erwachsenenwelt ab und zu ein Bein und holen damit, auf ihre eigene Art, den Himmel auf die Erde herunter.

 

Und so ist es nicht einmal unvorstellbar, dass sie sich hier unten treffen, zu Weihnachten und eine unerwartete Allianz bilden – die Kinderengel der Kirchendecken und Hochaltäre und Harry Potter mit seiner Freundesschar.

 

Silvia Strahm Bernet

 

 

© Silvia Strahm 2002 / Kolumne NLZ